Bastian drehte sich nach der Stimme um und sah auf einem Mauervorsprung (der die Unterseite eines Erkers war, der verkehrt herum stand) einen kleinen grauen Affen sitzen. Das Tier hatte einen schwarzen Doktorhut auf, von dem eine Quaste baumelte, und schien angelegentlich damit beschäftigt, etwas an den Fingern seiner Füße abzuzählen. Dann grinste es Bastian an und sagte:
»Verzeihung, ich habe mir bloß schnell etwas ausgerechnet.«
»Wer bist du?« fragte Bastian.
»Argax, mein Name, sehr angenehm!« antwortete das Äffchen und lüpfte den Doktorhut, »und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
»Eben!« sagte das Äffchen befriedigt.
»Und wie heißt diese Stadt?« erkundigte sich Bastian.
»Sie hat eigentlich keinen Namen«, erklärte Argax, »aber man könnte sie - sagen wir mal - die Alte Kaiser Stadt nennen.«
»Die Alte Kaiser Stadt?« wiederholte Bastian beunruhigt. »Warum? Ich sehe hier niemand, der wie ein Alter Kaiser aussieht.«
»Nein?« - das Äffchen kicherte -»und doch waren alle, die du hier siehst, zu ihrer Zeit einmal Kaiser von Phantásien - oder sie wollten es wenigstens werden.«
Bastian erschrak.
»Woher weißt du das, Argax?«
Der Affe lüpfte wieder den Doktorhut und grinste.
»Ich bin - sagen wir mal - der Aufseher über die Stadt.«
Bastian blickte herum. Ganz in der Nähe hatte ein alter Mann eine Grube ausgehoben. Jetzt stellte er eine brennende Kerze hinein und schaufelte das Loch wieder zu.
Das Äffchen kicherte.
»Kleine Stadtbesichtigung gefällig, Herr? Sagen wir mal - erste Bekanntschaft machen mit deinem künftigen Wohnort?«
»Nein«, sagte Bastian, »was redest du da?«
Das Äffchen sprang auf seine Schulter.
»Komm nur!« wisperte es, »kostet nichts. Hast schon alles bezahlt, was dich zum Eintritt berechtigt.«
Bastian begann zu gehen, obwohl er eigentlich lieber fortgelaufen wäre. Ihm war unbehaglich, und dieses Gefühl wuchs mit jedem Schritt. Er beobachtete die Leute, und ihm fiel auf, daß sie auch untereinander nicht redeten. Sie kümmerten sich überhaupt nicht umeinander, ja, sie schienen sich nicht einmal wahrzunehmen.
»Was ist los mit ihnen?« erkundigte sich Bastian, »warum benehmen sie sich so sonderbar?«
»Nicht sonderbar«, kicherte Argax ihm ins Ohr, »sie sind deinesgleichen, könnte man sagen, oder besser, sie waren es zu ihrer Zeit.«
»Was meinst du damit?« Bastian blieb stehen. »Willst du sagen, daß es Menschen sind?«
Argax hüpfte vor Belustigung auf Bastians Rücken auf und nieder:
»So ist es! So ist es!«
Bastian sah mitten auf seinem Weg eine Frau sitzen, die mit einer Stopfnadel Erbsen von einem Teller zu piken versuchte.
»Wie kommen die hierher? Was machen sie hier?« fragte Bastian.
»Oh, es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die nicht in ihre Welt zurückgefunden haben«, erklärte Argax. »Erst wollten sie nicht mehr, und jetzt - sagen wir mal - können sie nicht mehr.«
Bastian blickte einem kleinen Mädchen nach, das mit größter Anstrengung einen Puppenwagen schob, der viereckige Räder hatte.
»Warum können sie nicht mehr?« fragte er.
»Sie müßten es sich wünschen. Aber sie wünschen sich nichts mehr. Sie haben ihren letzten Wunsch zu irgendwas anderem verwendet.«
»Ihren letzten Wunsch?« fragte Bastian mit blassen Lippen. »Kann man denn nicht so lang weiterwünschen, wie man will?«
Argax kicherte wieder. Er versuchte jetzt, Bastians Turban abzunehmen, um ihn zu lausen.
»Laß das!« rief Bastian. Er versuchte den Affen abzuschütteln, aber der hielt sich fest und kreischte vor Vergnügen.
»Nicht doch! Nicht doch!« keckerte er, »wünschen kannst du nur, so lang du dich an deine Welt erinnerst. Die hier haben alle ihre Erinnerungen ausgegeben. Wer keine Vergangenheit mehr hat, der hat auch keine Zukunft. Darum werden sie auch nicht älter. Schau sie dir an! Würdest du glauben, daß manche von ihnen schon tausend Jahre und sogar noch länger hier sind? Aber sie bleiben so, wie sie sind. Für sie kann sich nichts mehr ändern, weil sie selbst sich nicht mehr ändern können.«
Bastian beobachtete einen Mann, der einen Spiegel einseifte und dann anfing, ihn zu rasieren. Was ihm erst noch komisch vorgekommen war, jagte ihm jetzt eine Gänsehaut über den Rücken.
Er ging rasch weiter und wurde sich erst jetzt bewußt, daß er immer tiefer in die Stadt hineinging. Er wollte umkehren, aber irgend etwas zog ihn an wie ein Magnet. Er begann zu laufen und versuchte, den lästigen grauen Affen loszuwerden, aber der saß fest wie eine Klette und spornte ihn sogar noch an:
»Schneller! Hopp! Hopp! Hopp!«
Bastian sah ein, daß es nichts nützte, was er tat, und hielt inne.
»Und alle hier«, fragte er atemlos, »waren einmal Kaiser von Phantásien oder wollten es werden?«
»Klar«, sagte Argax, »jeder, der nicht zurückfindet, will früher oder später Kaiser werden. Nicht jeder hat's geschafft, aber alle haben es gewollt. Darum gibt es zwei Sorten von Narren hier. Das Ergebnis allerdings - könnte man sagen - ist das gleiche.«
»Welche zwei Sorten? Erkläre es mir! Ich muß es wissen, Argax!«
»Nur ruhig! Nur ruhig!« kicherte der Affe und umschlang Bastians Hals fester. »Die einen haben ihre Erinnerungen so nach und nach ausgegeben. Und als sie die letzte verloren hatten, konnte ihnen AURYN auch keine Wünsche mehr erfüllen. Danach kamen sie - sagen wir mal - ganz von selbst hierher. Die anderen, die sich zum Kaiser gemacht haben, verloren dabei auf einen Schlag alle Erinnerungen. Deshalb konnte ihnen AURYN ebenfalls keine Wünsche mehr erfüllen, weil sie keine mehr hatten. Wie du siehst, kommt es auf das gleiche heraus. Auch sie sind hier und können nicht mehr fort.«
»Heißt das, daß sie alle einmal AURYN hatten?«
»Das versteht sich!« antwortete Argax. »Aber sie haben es längst vergessen. Es würde ihnen ja auch nichts mehr helfen, den armen Narren.«
»Ist es ihnen -«, Bastian zögerte, »ist es ihnen weggenommen worden?«
»Nein«, sagte Argax, »wenn einer sich zum Kaiser macht, dann verschwindet es durch seinen eigenen Wunsch. Ist doch ganz sonnenklar, könnte man sagen, weil man die Macht der Kindlichen Kaiserin schließlich nicht dazu verwenden kann, ihr genau diese Macht wegzunehmen.«
Bastian fühlte sich so elend, daß er sich gerne irgendwo hingesetzt hätte, aber der kleine graue Affe ließ es nicht zu.
»Nein, nein, die Stadtbesichtigung ist noch nicht zu Ende«, schrie er, »das Wichtigste kommt erst noch! Geh weiter! Geh weiter!«
Bastian sah einen Jungen, der mit einem schweren Hammer Nägel in Strümpfe schlug, die vor ihm auf dem Boden lagen. Ein dicker Mann versuchte Briefmarken auf Seifenblasen zu kleben, die natürlich immer zerplatzten. Aber er ließ nicht ab, neue zu blasen.
»Schau!« hörte Bastian die kichernde Stimme des Argax, und er fühlte, daß dieser ihm mit seinen Affenhändchen den Kopf in eine bestimmte Richtung drehte, »schau dorthin! Ist das nicht lustig?«
Da stand eine große Gruppe von Leuten, Männer und Frauen, Alte und Junge, alle in den wunderlichsten Kleidungen, aber sie redeten nicht. Jedes war ganz für sich. Auf dem Boden lag eine Unmenge großer Würfel, und auf den sechs Seiten jedes Würfels standen Buchstaben. Immer wieder von neuem mischten die Leute diese Würfel durcheinander und starrten dann lange darauf hin.
»Was tun sie da?« flüsterte Bastian, »was ist das für ein Spiel? Wie heißt es?«