»Das Beliebigkeitspiel«, antwortete Argax. Er winkte den Spielern zu und rief: »Brav, meine Kinder! Nur weiter so! Nur nicht aufgeben!«
Dann wandte er sich wieder Bastian zu und raunte ihm ins Ohr:
»Sie können nichts mehr erzählen. Sie haben die Sprache verloren. Darum habe ich dieses Spiel für sie ausgedacht. Es beschäftigt sie, wie du siehst. Und es ist sehr einfach. Wenn du einmal nachdenkst, dann mußt du zugeben, daß alle Geschichten der Welt im Grunde nur aus sechsundzwanzig Buchstaben bestehen. Die Buchstaben sind immer die gleichen, bloß ihre Zusammensetzung wechselt. Aus den Buchstaben werden Wörter gebildet, aus den Wörtern Sätze, aus den Sätzen Kapitel und aus den Kapiteln Geschichten. Da schau, was steht dort?«
Bastian las:
»Ja«, kicherte der Argax, »so ist es meistens. Aber wenn man es sehr lang spielt, jahrelang, dann ergeben sich manchmal durch Zufall Wörter. Keine besonders geistreichen Wörter, aber wenigstens Wörter. »Spinatkrampf« zum Beispiel, oder »Bürstenwürste« oder »Kragenlack« . Wenn man es aber hundert Jahre, tausend Jahre, hunderttausend Jahre immer weiterspielt, dann muß nach aller Wahrscheinlichkeit dabei durch Zufall auch einmal ein Gedicht herauskommen. Und wenn man es ewig spielt, dann müssen dabei alle Gedichte, alle Geschichten, die überhaupt möglich sind, entstehen, dazu auch alle Geschichten der Geschichten und sogar diese Geschichte, in der wir beide uns gerade unterhalten. Das ist logisch, nicht wahr?«
»Das ist entsetzlich«, sagte Bastian.
»Oh«, meinte Argax, »das kommt auf den Standpunkt an. Diese dort - könnte man sagen - sind eifrig bei der Sache. Und außerdem, was sollen wir in Phantásien mit ihnen machen?«
Bastian sah den Spielern lange schweigend zu, dann fragte er leise:
»Argax - du weißt, wer ich bin, nicht wahr?«
»Wie denn nicht? Wer kennt deinen Namen nicht in Phantásien?«
»Sag mir eins, Argax. Wenn ich gestern Kaiser geworden wäre, wäre ich dann auch schon hier?«
»Heute oder morgen«, antwortete der Affe, »oder in einer Woche. Du hättest jedenfalls bald hierhergefunden.«
»Dann hat Atréju mich gerettet.«
»Das weiß ich nicht«, gab der Affe zu.
»Und wenn es ihm gelungen wäre, mir das Kleinod wegzunehmen, was wäre dann geschehen?«
Der Affe kicherte wieder.
»Man könnte sagen - dann wärst du auch hier gelandet.«
»Warum?«
»Weil du AURYN brauchst, um den Rückweg zu finden. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß du es noch schaffst.«
Der Affe klatschte in die Händchen, lüpfte seinen Doktorhut und grinste.
»Sag mir, Argax, was muß ich tun?«
»Einen Wunsch finden, der dich zurückbringt in deine Welt.«
Bastian schwieg wieder lange und fragte dann:
»Argax, kannst du mir sagen, wie viele Wünsche ich überhaupt noch haben kann?«
»Nicht mehr viel. Nach meiner Ansicht höchstens noch drei oder vier. Und damit wirst du schwerlich auskommen. Du fängst ein bißchen spät an, und der Rückweg ist nicht leicht. Du mußt übers Nebelmeer. Schon das allein kostet dich einen. Was danach kommt, weiß ich nicht. Niemand in Phantásien weiß, wo für euereins der Weg in eure Welt ist. Vielleicht findest du ja Yors Minroud, die letzte Rettung für manche wie dich. Obwohl, ich fürchte, für dich ist es - sagen wir mal - zu weit. Aus der Alten Kaiser Stadt wirst du für diesmal noch hinausfinden.«
»Danke, Argax!« sagte Bastian.
Der kleine graue Affe grinste.
»Auf Wiedersehen, Bastian Balthasar Bux!«
Und mit einem Satz war er in einem der irrsinnigen Häuser verschwunden. Den Turban hatte er mitgenommen.
Bastian stand noch eine Weile da, ohne sich zu regen. Was er erfahren hatte, verwirrte und bestürzte ihn so, daß er keinen Entschluß fassen konnte. Alle seine bisherigen Ziele und Pläne waren mit einem Schlag zusammengebrochen. Ihm war, als sei in seinem Inneren alles auf den Kopf gestellt - wie jene Pyramide dort, das Oberste war zuunterst gekehrt und das Hinterste zuvorderst. Was er gehofft hatte, war sein Verderben, und was er gehaßt hatte, seine Rettung.
Zunächst war ihm nur eines klar: Er mußte aus diesem Tollhaus von Stadt hinaus! Und er wollte nie wieder hierher zurück!
Er machte sich auf den Weg durch das Gewirr der sinnlosen Gebäude, und bald zeigte sich, daß der Weg hinein sehr viel einfacher gewesen war als der Weg hinaus. Immer wieder mußte er feststellen, daß er die Richtung verfehlt hatte und schon wieder dem Zentrum der Stadt zueilte. Er brauchte den ganzen Nachmittag, ehe es ihm gelang, den Erdwall zu erreichen. Dann lief er in die Heide hinaus und hörte nicht auf zu laufen, bis die Nacht - ebenso finster wie die vorherige - ihn zum Anhalten zwang. Er fiel erschöpft unter einen Wacholderstrauch und sank in tiefen Schlaf. Und in diesem Schlaf erlosch die Erinnerung in ihm, daß er einst hatte Geschichten erfinden können.
Die ganze Nacht hindurch sah er ein einziges Traumbild vor sich, das nicht weichen wollte und sich auch nicht veränderte: Atréju mit der blutenden Wunde auf der Brust stand da und sah ihn an, reglos und ohne Wort.
Von einem Donnerschlag geweckt, fuhr Bastian in die Höhe. Tiefste Finsternis umgab ihn, doch all die Wolkenmassen, die sich seit Tagen angesammelt hatten, schienen in wilden Aufruhr geraten zu sein. Ununterbrochen zuckten Blitze, die Donner polterten und grollten, daß die Erde bebte, der Sturm heulte über die Heide hin und bog die Wacholderbäume zu Boden. Regengüsse wehten wie graue Vorhänge über die Landschaft.
Bastian erhob sich. In seinen schwarzen Mantel gewickelt stand er da, das Wasser lief ihm übers Gesicht.
Ein Blitzstrahl fuhr direkt vor ihm in einen Baum und spaltete den knorrigen Stamm, die Zweige gingen sofort in Flammen auf, der Wind fegte einen Funkenregen über die nächtliche Heide hin, den die Wassergüsse sofort erstickten.
Bastian war von dem fürchterlichen Krachen auf die Knie geworfen worden. Nun begann er mit beiden Händen die Erde aufzugraben. Als das Loch tief genug war, band er das Schwert Sikánda von seiner Hüfte und legte es hinein.
»Sikánda!« sagte er leise in das Sturmgeheul, »ich nehme für immer Abschied von dir. Nie wieder soll Unheil kommen durch einen, der dich gegen einen Freund zieht. Und niemand soll dich hier finden, ehe vergessen ist, was durch dich und mich geschah.«
Dann grub er das Loch wieder zu und legte zuletzt Moos und Zweige über die Stelle, damit niemand sie entdecken sollte.
Und dort liegt Sikánda noch heute. Denn erst in einer fernen Zukunft wird einer kommen, der es ohne Gefahr berühren darf - doch das ist eine andere Geschichte und wird ein andermal erzählt werden.
Bastian ging durch die Dunkelheit fort.
Das Gewitter ließ gegen Morgen nach, der Wind legte sich, der Regen tropfte von den Bäumen, und es wurde still.