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Mit dieser Nacht begann für Bastian eine lange, einsame Wanderung. Zurück zu den Weg- und Kampfgenossen, zurück zu Xayíde wollte er nicht mehr. Er wollte jetzt den Rückweg in die Menschenwelt suchen - aber er wußte nicht wie und wo. Gab es denn irgendwo ein Tor, eine Furt, eine Grenzscheide, die ihn hinüberführen konnte?

Er mußte es sich wünschen, das wußte er. Aber darüber hatte er keine Gewalt. Er fühlte sich wie ein Taucher, der auf dem Meeresgrund nach einem versunkenen Schiff sucht, der aber immer wieder nach oben getrieben wird, ehe er noch etwas finden konnte.

Er wußte auch, daß ihm nur noch wenige Wünsche blieben, deshalb achtete er sorgfältig darauf, keinen Gebrauch von AURYN zu machen. Die wenigen Erinnerungen, die ihm noch verblieben waren, durfte er nur opfern, wenn er dadurch seiner Welt näher kam, und nur dann, wenn es unbedingt nötig war.

Aber Wünsche kann man nach Belieben weder hervorrufen noch unterdrücken. Sie kommen aus tieferen Tiefen in uns als alle Absichten, mögen diese nun gut oder schlecht sein. Und sie entstehen unbemerkt.

Ohne daß Bastian dessen gewahr wurde, bildete sich in ihm ein neuer Wunsch und nahm nach und nach deutliche Gestalt an.

Die Einsamkeit, in der er schon seit vielen Tagen und Nächten dahinwanderte, bewirkte, daß er sich wünschte, zu irgendeiner Gemeinschaft zu gehören, aufgenommen zu sein in eine Gruppe, nicht als Herr oder Sieger oder überhaupt als ein Besonderer, sondern nur als einer unter anderen, vielleicht als der Kleinste oder am wenigsten Wichtige, aber als einer, der selbstverständlich dazugehört und an der Gemeinschaft teilhat.

Da geschah es eines Tages, daß er an einen Meeresstrand gelangte. Jedenfalls glaubte er das anfangs. Es war eine steile Felsenküste, auf der er stand, und vor seinen Augen dehnte sich ein Meer aus weißen, erstarrten Wogen. Erst später bemerkte er, daß diese Wogen nicht wirklich reglos waren, sondern sich sehr langsam bewegten, daß es Strömungen gab und Wirbel, die sich drehten, so unmerklich wie die Zeiger einer Uhr.

Es war das Nebelmeer!

Bastian wanderte an der Steilküste entlang. Die Luft war warm und ein wenig feucht, kein Windhauch regte sich. Es war noch früh am Vormittag, und die Sonne schien auf die schneeweiße Nebelfläche, die sich bis zum Horizont dehnte.

Bastian ging einige Stunden und gelangte gegen Mittag zu einer kleinen Stadt, die auf hohen Pfählen ein Stück vom Festland entfernt draußen im Nebelmeer stand. Eine lange, freischwebende Hängebrücke verband sie mit einem vorspringenden Teil der Felsenküste. Sie schwankte leise, als Bastian sie nun überschritt.

Die Häuser waren verhältnismäßig klein, die Türen, die Fenster, die Treppen, alles schien wie für Kinder gemacht. Und in der Tat, die Leute, die in den Straßen umhergingen, hatten alle die Größe von Kindern, obgleich es sich um ausgewachsene Männer mit Barten und Frauen mit hochgesteckten Frisuren handelte. Auffallend war, daß man sie kaum unterscheiden konnte, so sehr ähnelten sie sich untereinander. Ihre Gesichter waren dunkelbraun wie nasse Erde und sahen sehr sanft und still aus. Wenn sie Bastian erblickten, nickten sie ihm zu, aber keiner redete ihn an. Überhaupt schienen sie sehr schweigsam zu sein, nur selten war ein Wort oder ein Zuruf auf den Straßen und Gassen zu vernehmen, trotz des regen Treibens, das dort herrschte. Auch sah man niemals einen allein, immer gingen sie in kleinen oder größeren Gruppen umher, untergehakt oder sich an den Händen haltend.

Als Bastian die Häuser genauer besah, stellte er fest, daß sie alle aus einer Art von Korbgeflecht bestanden, manche aus gröberem, andere aus feinerem, ja sogar der Boden der Straßen war von derselben Beschaffenheit. Und schließlich bemerkte er auch, daß sogar die Kleidung der Leute, Hosen, Röcke, Jacken und Hüte aus dem nämlichen Geflecht gemacht waren, in diesem Fall allerdings aus sehr feinem und kunstvoll gewobenem. Offenbar machte man hier schlechthin alles aus dem gleichen Material.

Da und dort konnte Bastian einen Blick in verschiedene Werkstätten von Handwerkern werfen, und alle waren mit dem Herstellen geflochtener Dinge beschäftigt, sie machten Schuhe, Krüge, Lampen, Tassen, Regenschirme - alles aus diesem Flechtwerk. Und niemals arbeitete einer allein, denn alle diese Dinge konnten nur durch die Zusammenarbeit mehrerer hergestellt werden. Es war ein Vergnügen, zuzusehen, wie geschickt sie einander in die Hände arbeiteten und einer immer die Tätigkeit des anderen ergänzte. Dabei sangen sie meist eine einfache Melodie ohne Worte.

Die Stadt war nicht sehr groß, und so hatte Bastian bald ihren Rand erreicht. Und der Anblick, der sich ihm hier bot, zeigte unverkennbar, daß es sich um eine Seefahrerstadt handelte, denn hier gab es Hunderte von Schiffen jeder Form und Größe. Doch war es eine ziemlich ungewöhnliche Seefahrerstadt, denn alle diese Schiffe waren an riesigen Angelruten aufgehängt und schwebten, leise schwankend, eines neben dem anderen, über der Tiefe, in der die weißen Nebelmassen hinzogen. Übrigens schienen auch diese Schiffe allesamt aus Korbgeflecht zu bestehen und hatten weder Segel noch Masten, noch Ruder oder Steuer.

Bastian hatte sich über ein Geländer gebeugt und blickte auf das Nebelmeer hinunter. Wie hoch die Pfähle waren, auf denen die Stadt ruhte, konnte er aus den Schatten sehen, die sie im Schein der Sonne auf die weiße Fläche dort unten warfen.

»Nachts«, hörte er eine Stimme neben sich sagen, »steigen die Nebel bis auf die Höhe der Stadt. Dann können wir in See stechen. Tags zehrt die Sonne die Nebel auf und der Meeresspiegel sinkt. Das wolltest du doch wissen, Fremder, nicht wahr?«

Neben Bastian standen drei Männer an das Geländer gelehnt, die ihn sanft und freundlich anblickten. Er kam mit ihnen ins Gespräch und erfuhr, daß diese Stadt den Namen Yskál trug oder auch Korbstadt genannt wurde. Ihre Einwohner hießen Yskálnari. Das Wort bedeutete etwa »die Gemeinsamen« . Von Beruf waren die drei Nebelschiffer. Bastian wollte seinen Namen nicht nennen, um nicht erkannt zu werden, und sagte, er hieße Einer. Die drei Seeleute erklärten ihm, daß sie überhaupt keine Namen für jeden einzelnen hätten und das auch gar nicht nötig fänden. Sie seien alle zusammen die Yskálnari, und das genüge ihnen.

Da es gerade Mittagsessenszeit war, luden sie Bastian ein, mit ihnen zu gehen, und er nahm dankbar an. In einem nahegelegenen Gasthaus setzten sie sich zu Tisch, und während der Mahlzeit erfuhr Bastian alles über die Stadt Yskál und ihre Bewohner.

Das Nebelmeer, das bei ihnen der Skaidan hieß, war ein riesiger Ozean aus weißem Dunst, der zwei Teile Phantásiens voneinander trennte. Wie tief der Skaidan war, hatte noch niemand erforscht, und auch nicht, woher diese ungeheure Nebelmasse stammte. Zwar konnte man unterhalb der Oberfläche durchaus atmen, und man konnte von der Küste aus, wo der Nebel noch verhältnismäßig flach war, ein Stück weit auf dem Grund in das Meer hineingehen, doch nur, wenn man an ein Seil festgebunden war, an dem man zurückgezogen werden konnte. Der Nebel hatte nämlich die Eigenschaft, einen binnen kurzem jeglicher Orientierungsfähigkeit zu berauben. Viele Wagemutige oder Leichtsinnige waren im Lauf der Zeiten schon bei dem Versuch umgekommen, allein und zu Fuß den Skaidan zu durchqueren. Nur wenige hatte man retten können. Die einzige Art, wie man auf die andere Seite des Nebelmeeres kommen konnte, war die der Yskálnari.

Das Korbgeflecht nämlich, aus dem die Häuser der Stadt Yskál, alle Gebrauchsgegenstände, die Kleider und auch die Schiffe bestanden, wurde aus einer Art von Binsen gemacht, die nahe dem Ufer unter der Oberfläche des Nebelmeeres wuchsen, und die - wie nach dem vorher Gesagten leicht einzusehen ist - nur unter Lebensgefahr geschnitten werden konnten. Diese Binsen, obgleich außerordentlich biegsam und in der normalen Luft sogar schlaff, standen im Nebel aufrecht, weil sie leichter waren als dieser und auf ihm schwammen. Somit schwammen natürlich auch die Schiffe, die aus ihnen gebaut waren. Die Kleidung, die die Yskálnari trugen, war also zugleich eine Art Schwimmweste, für den Fall, daß jemand in den Nebel hineingeriet.