Aber das war noch nicht das eigentliche Geheimnis der Yskálnari und erklärte noch nicht den Grund für die eigentümliche Gemeinsamkeit, die alle ihre Tätigkeiten bestimmte. Wie Bastian bald bemerkte, schienen sie das Wörtchen »ich« nicht zu kennen, jedenfalls benützten sie es niemals, sondern sprachen immer nur per »wir« . Woher das kam, fand er erst später heraus.
Als er den Reden der drei Nebelschiffer entnahm, daß sie noch diese Nacht in See stechen würden, fragte er sie, ob sie ihn nicht als Schiffsjungen anheuern könnten. Sie erklärten ihm, daß eine Fahrt auf dem Skaidan sich beträchtlich von jeder anderen Seefahrt unterschied, weil man niemals wissen könne, wie lang man unterwegs sei und wo man schließlich ankäme. Bastian meinte, das sei ihm ganz recht, und so willigten die Seeleute ein, ihn mit auf ihr Schiff zu nehmen.
Bei Einbruch der Nacht begannen die Nebel wie erwartet zu steigen und hatten gegen Mitternacht die Höhe der Korbstadt erreicht. Nun schwammen alle die Schiffe, die vorher in der Luft gehangen hatten, auf der weißen Oberfläche. Das Schiff, auf dem Bastian sich befand - es war ein etwa dreißig Meter langer, flacher Kahn - wurde von seinen Tauen losgemacht und trieb langsam auf die Weite des nächtlichen Nebelmeeres hinaus.
Schon beim ersten Anblick hatte Bastian sich gefragt, mit welchem Antrieb diese Art von Schiff sich wohl fortbewegen mochte, da es weder Segel noch Ruder oder Schiffsschrauben gab. Segel, wie er erfuhr, hätten nichts genützt, da über dem Skaidan fast immer Windstille herrschte, und mit Rudern oder Schrauben konnte man erst recht nicht über den Nebel kommen. Die Kraft, mit der das Schiff fortbewegt wurde, war eine gänzlich andere.
Auf der Mitte des Decks befand sich eine kreisrunde, etwas erhöhte Fläche. Bastian hatte sie schon zu Beginn bemerkt und für eine Kommandobrücke oder dergleichen gehalten. Tatsächlich standen während der ganzen Fahrt mindestens zwei der Nebelschiffer dort oben, manchmal aber auch drei, vier oder noch mehr. (Die gesamte Besatzung zählte vierzehn Mann - ohne Bastian natürlich.) Die auf der runden Fläche hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und blickten in Fahrtrichtung. Wenn man nicht sehr genau hinsah, konnte man glauben, sie stünden unbeweglich. Erst bei aufmerksamer Beobachtung war zu bemerken, daß sie sich sehr langsam und vollkommen übereinstimmend in einer Art Tanz wiegten. Dazu sangen sie eine immerfort wiederkehrende, einfache Melodie, die sehr schön und sanft war.
Bastian hatte dieses merkwürdige Verhalten zunächst für eine besondere Zeremonie oder Sitte gehalten, deren Sinn ihm verborgen war. Erst am dritten Tag der Reise fragte er einen seiner drei Freunde, der sich neben ihn gesetzt hatte. Der schien seinerseits verwundert über Bastians Staunen und erklärte ihm, daß die Männer das Schiff mit ihrer Vorstellungskraft antrieben.
Bastian konnte diese Erklärung zunächst nicht verstehen und fragte, ob sie irgendwelche verborgenen Räder in Bewegung setzten.
»Nein«, antwortete der Nebelschiff er, »wenn du deine Beine bewegen willst, genügt es dir doch auch, es dir vorzustellen - oder mußt du deine Beine durch Räderwerke betreiben?«
Der Unterschied zwischen dem eigenen Körper und einem Schiff bestand lediglich darin, daß mindestens zwei Yskálnari ihre Vorstellungskraft völlig zu einer werden lassen mußten. Denn erst durch diese Vereinigung entstand die Fortbewegungskraft. Und wollten sie schnellere Fahrt machen, so mußten mehrere von ihnen zusammenwirken. Normalerweise arbeiteten sie in Schichten zu je drei, die übrigen ruhten sich aus, denn es war, auch wenn es so leicht und anmutig aussah, eine schwere und anstrengende Arbeit, die große und ununterbrochene Konzentration erforderte. Aber es war die einzige Art, wie der Skaidan befahren werden konnte.
Und Bastian ging bei den Nebelschiffern in die Schule und erlernte das Geheimnis ihrer Gemeinsamkeit: den Tanz und das wortlose Lied.
Nach und nach während der langen Überfahrt wurde er einer der ihren. Es war eine ganz eigentümliche, unbeschreibliche Empfindung von Selbstvergessenheit und Harmonie, wenn er während des Tanzes fühlte, wie seine eigene Vorstellungskraft mit der der anderen zusammenschmolz und sich zu einem Ganzen vereinigte. Er fühlte sich wirklich aufgenommen in ihre Gemeinschaft und zu ihnen gehörig - und gleichzeitig schwand aus seinem Gedächtnis jede Erinnerung daran, daß es in der Welt, aus der er gekommen war, und in die er nun den Rückweg suchen wollte, Menschen gab, Menschen, die alle ihre eigenen Vorstellungen und Meinungen hatten. Das einzige, woran er sich noch dunkel erinnern konnte, war sein Zuhause und seine Eltern.
Doch tief auf dem Grunde seines Herzens lebte noch ein anderer Wunsch als der, nicht mehr allein zu sein. Und dieser andere Wunsch begann sich nun leise zu regen.
Das geschah an dem Tag, als er zum ersten Mal bemerkte, daß die Yskálnari ihre Gemeinsamkeit nicht dadurch erlangten, daß sie ganz verschieden geartete Vorstellungsweisen zusammenklingen ließen, sondern weil sie einander so völlig glichen, daß es sie keine Anstrengung kostete, sich als Gemeinschaft zu fühlen. Im Gegenteil, es gab für sie gar nicht die Möglichkeit, miteinander zu streiten oder uneins zu sein, denn keiner von ihnen fühlte sich als einzelner. Sie mußten keine Gegensätze überwinden, um Harmonie untereinander zu finden, und gerade diese Mühelosigkeit erschien Bastian nach und nach unbefriedigend. Ihre Sanftheit erschien ihm fade und die immer gleiche Melodie ihrer Lieder monoton. Er fühlte, daß ihm etwas an alledem fehlte, daß ihn nach etwas hungerte, doch konnte er noch nicht sagen, was es war.
Das wurde ihm erst klar, als einige Zeit später eine Riesen-Nebelkrähe am Himmel gesichtet wurde. Alle Yskálnari bekamen Angst und versteckten sich unter Deck, so rasch sie konnten. Aber einem gelang es nicht mehr rechtzeitig, der ungeheure Vogel stieß mit einem Schrei herab, packte den Unglücklichen und trug ihn im Schnabel fort.
Als die Gefahr vorüber war, kamen die Yskálnari wieder hervor und setzten die Reise mit Gesang und Tanz fort, als ob nichts geschehen wäre. Ihre Harmonie war nicht gestört, sie trauerten nicht und klagten nicht, sie verloren kein einziges Wort über den Vorfall.
»Nein«, sagte einer, als Bastian ihn deshalb befragte, »uns fehlt keiner. Worüber sollten wir klagen?«
Der einzelne zählte bei ihnen nichts. Und da sie sich nicht unterschieden, war keiner unersetzlich.
Aber Bastian wollte ein einzelner sein, ein Jemand, nicht bloß einer wie alle anderen. Er wollte gerade dafür geliebt werden, daß er so war, wie er war. In dieser Gemeinschaft der Yskálnari gab es Harmonie, aber keine Liebe.
Er wollte nicht mehr der Größte, der Stärkste oder der Klügste sein. Das alles hatte er hinter sich. Er sehnte sich danach, so geliebt zu werden, wie er war, gut oder schlecht, schön oder häßlich, klug oder dumm, mit all seinen Fehlern - oder sogar gerade wegen ihnen.