Aber wie war er denn?
Er wußte es nicht mehr. Er hatte so vieles in Phantásien bekommen, und nun konnte er unter all den Gaben und Kräften sich selbst nicht wiederfinden.
Von da an beteiligte er sich nicht mehr am Tanz der Nebelschiffer. Er saß ganz vorn im Bug und blickte über den Skaidan, alle Tage und manchmal auch die Nächte hindurch.
Und endlich war das andere Ufer erreicht. Das Nebelschiff legte an, Bastian bedankte sich bei den Yskálnari und ging an Land.
Es war ein Land voller Rosen, Wälder von Rosen in allen Farben. Und mitten durch diesen unendlichen Rosenhag lief ein geschwungener Pfad.
Bastian folgte ihm.
24.
Dame Aiuóla
Xayídes Ende ist rasch erzählt, doch schwer zu verstehen und voller Widersprüche wie so vieles in Phantásien. Bis zum heutigen Tag zerbrechen sich die Gelehrten und die Geschichtsschreiber den Kopf darüber, wie es möglich war, manche bezweifeln sogar die Tatsachen oder versuchen ihnen eine andere Deutung zu geben. Hier soll berichtet werden, was wirklich geschehen ist, und jeder mag versuchen, sich die Dinge zu erklären, so gut er es kann.
Zu derselben Zeit, als Bastian bereits in der Stadt Yskál bei den Nebelschiffern ankam, erreichte Xayíde mit ihren schwarzen Riesen die Stelle auf der Heide, wo das Metallpferd unter Bastian in Stücke zerfallen war. In diesem Augenblick ahnte sie bereits, daß sie ihn nicht mehr finden würde. Als sie wenig später den Erdwall erblickte, auf den Bastians Spuren hinaufführten, wurde diese Ahnung zur Gewißheit. Wenn er in der Alten Kaiser Stadt angekommen war, so war er für ihre Pläne verloren, ganz gleich, ob er für immer dort bleiben würde oder ob es ihm gelungen war, aus der Stadt zu entweichen. Im ersten Fall war er machtlos geworden wie alle dort und konnte nichts mehr wünschen - im anderen Fall waren alle Wünsche nach Macht und Größe in ihm erloschen. In beiden Fällen war das Spiel für sie, Xayíde, zu Ende.
Sie befahl ihren Panzerriesen stehenzubleiben, doch unbegreiflicherweise gehorchten sie ihrem Willen nicht, sondern marschierten weiter. Da wurde sie zornig, sprang aus ihrer Sänfte und stellte sich ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen. Die gepanzerten Riesen aber, Fußvolk wie Reiter, stampften weiter, als wäre sie nicht vorhanden, und traten sie unter ihre Füße und Hufe. Und erst als Xayíde ihr Leben ausgehaucht hatte, blieb der ganze lange Zug plötzlich stehen wie ein abgelaufenes Uhrwerk.
Als später Hýsbald, Hýdorn und Hýkrion mit den Resten des Heeres nachgekommen waren, sahen sie, was hier geschehen war, und konnten es nicht fassen, denn es war ja allein Xayídes Wille gewesen, der die leeren Riesen bewegte und also auch über sie hinwegstampfen hatte lassen. Doch war langes Nachdenken nicht die besondere Stärke der drei Herren, so zuckten sie schließlich die Achseln und ließen die Sache auf sich beruhen. Sie berieten, was nun zu tun sei, und kamen zu dem Ergebnis, daß der Feldzug offensichtlich sein Ende gefunden habe. Also entließen sie das restliche Heer und empfahlen jedem, nach Hause zu gehen. Sie selbst, die Bastian ja einen Treueeid geleistet hatten, den sie nicht brechen wollten, beschlossen, ihn in ganz Phantásien zu suchen. Doch konnten sie sich über die einzuschlagende Richtung nicht einig werden und entschieden deshalb, daß jeder auf eigene Faust weiterziehen sollte. Sie verabschiedeten sich voneinander, und jeder humpelte in einer anderen Richtung davon. Alle drei erlebten noch viele Abenteuer, und es gibt in Phantásien unzählige Berichte, die von ihrer Suche ohne Sinn handeln. Doch das sind andere Geschichten und sollen ein andermal erzählt werden.
Die schwarzen, leeren Metallriesen aber standen seit dieser Zeit unbeweglich an der Stelle in der Heide, nahe der Alten Kaiser Stadt. Regen und Schnee fiel auf sie, sie verrosteten und versanken nach und nach schief oder gerade im Erdboden. Aber noch heute sind etliche von ihnen zu sehen. Der Platz gilt als verrufen, und jeder Wanderer macht einen Bogen darum. Aber kehren wir nun zu Bastian zurück.
Während er auf seinem Weg durch den Rosenhag den sanften Biegungen des Pfades folgte, erblickte er etwas, das ihn in Erstaunen setzte, weil er auf seinem ganzen Weg durch Phantásien noch nie etwas Derartiges gesehen hatte, nämlich einen Wegweiser mit einer geschnitzten Hand, die in eine Richtung zeigte.
»Zum Änderhaus«, stand darauf.
Bastian folgte der angegebenen Richtung ohne Eile. Er atmete den Duft der unzähligen Rosen ein und fühlte sich zunehmend vergnügter, so als stände ihm eine frohe Überraschung bevor.
Schließlich gelangte er in eine schnurgerade Allee aus kugelrunden Bäumen, die voller rotbackiger Äpfel hingen. Und ganz am Ende der Allee tauchte ein Haus auf. Beim Näherkommen stellte Bastian fest, daß es wohl das drolligste Haus war, das er je gesehen hatte. Ein hohes spitzes Dach saß wie eine Zipfelmütze auf einem Gebäude, das eher einem Riesenkürbis glich, denn es war kugelig, und die Wände hatten an vielen Stellen Beulen und Ausbuchtungen, sozusagen dicke Bäuche, was dem Haus ein behäbiges und gemütliches Aussehen verlieh. Es gab auch ein paar Fenster und eine Haustür, alles irgendwie schief und krumm, als wären diese Öffnungen ein wenig ungeschickt in den Kürbis hineingeschnitten.
Während Bastian auf das Haus zuging, beobachtete er, daß es in einer stetigen, langsamen Veränderung war. Etwa mit der Geruhsamkeit, mit der eine Schnecke ihre Fühler hervorschiebt, bildete sich auf der rechten Seite ein kleiner Auswuchs, der allmählich zu einem Erkertürmchen wurde. Zugleich schloß sich auf der linken Seite ein Fenster und verschwand nach und nach. Aus dem Dach wuchs ein Schornstein hervor, und über der Haustür bildete sich ein Balkönchen mit Gitterbalustrade. Bastian war stehengeblieben und beobachtete die fortwährenden Veränderungen mit Staunen und Belustigung. Jetzt war ihm klar, warum dieses Haus den Namen »Änderhaus« trug.
Während er noch so stand, hörte er aus dem Inneren eine warme, schöne Frauenstimme singen:
»Ach«, dachte Bastian, »was für eine schöne Stimme! Ich wollte, das Lied würde mir gelten!« Die Stimme begann von neuem zu singen:
Die Stimme übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Bastian aus. Er war sicher, daß es eine sehr freundliche Person war, die da sang. Er klopfte also an die Tür, und die Stimme rief:
»Herein! Herein, mein schöner Bub!«
Er öffnete die Tür und sah eine gemütliche, nicht sehr große Stube, durch deren Fenster die Sonne hereinschien. In der Mitte stand ein runder Tisch, gedeckt mit allerlei Schalen und Körben voll bunter Früchte, die Bastian nicht kannte. Am Tisch saß eine Frau, die selbst ein wenig aussah wie ein Apfel, so rotbackig und rund, so gesund und appetitlich.