Im allerersten Augenblick war Bastian fast überwältigt von dem Wunsch, mit ausgebreiteten Armen auf sie zuzulaufen und »Mama! Mama!« zu rufen. Aber er beherrschte sich. Seine Mama war tot und ganz gewiß nicht hier in Phantásien. Diese Frau hatte zwar dasselbe liebe Lächeln und dieselbe vertrauenerweckende Art, einen anzusehen, aber die Ähnlichkeit war höchstens die einer Schwester. Seine Mutter war klein gewesen, und diese Frau hier war groß und irgendwie imposant. Sie trug einen breiten Hut, der über und über voller Blumen und Früchte war, und auch ihr Kleid war aus einem farbenprächtigen geblümten Stoff. Erst nachdem er es eine Weile betrachtet hatte, bemerkte er, daß es in Wirklichkeit ebenfalls aus Blättern, Blüten und Früchten war.
Während er so stand und sie ansah, überkam ihn ein Gefühl, wie er es schon lange, lange nicht mehr gekannt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann und wo, er wußte nur, daß er sich manchmal so gefühlt hatte, als er noch klein war.
»Setz dich doch, mein schöner Bub!« sagte die Frau und wies mit einer einladenden Handbewegung auf einen Stuhl, »du wirst sicher hungrig sein, also iß erst einmal!«
»Entschuldigung«, antwortete Bastian, »du erwartest doch einen Gast. Aber ich bin nur ganz zufällig hier.«
»Tatsächlich?« fragte die Frau und schmunzelte, »na, das macht nichts. Deswegen kannst du doch trotzdem essen, nicht wahr? Ich werde dir inzwischen eine kleine Geschichte erzählen. Greif zu und laß dich nicht lang bitten!«
Bastian zog seinen schwarzen Mantel aus, legte ihn über den Stuhl, setzte sich und griff zögernd nach einer Frucht. Ehe er hineinbiß, erkundigte er sich:
»Und du? Ißt du nichts? Oder magst du kein Obst?«
Die Frau lachte laut und herzlich, Bastian wußte nicht worüber.
»Gut«, sagte sie, nachdem sie sich gefaßt hatte, »wenn du darauf bestehst, will ich dir Gesellschaft leisten und auch etwas zu mir nehmen, aber auf meine Art. Erschrick nicht!«
Damit griff sie nach einer Gießkanne, die neben ihr auf dem Boden stand, hielt sie sich über den Kopf und begoß sich selbst.
»Ah!« machte sie, »das erfrischt!«
Jetzt war es Bastian, der lachte. Dann biß er in die Frucht und stellte sogleich fest, daß er etwas so Gutes noch nie gegessen hatte. Danach aß er eine andere, und die war sogar noch besser.
»Schmeckt's?« fragte die Frau, die ihn aufmerksam beobachtete.
Bastian hatte den Mund voll und konnte nicht antworten, er kaute und nickte.
»Das freut mich«, meinte die Frau, »ich habe mir auch besondere Mühe damit gegeben. Iß nur weiter, soviel du magst!«
Bastian griff nach einer neuen Frucht, und die war nun erst vollends ein Fest. Er seufzte hingerissen.
»Und nun will ich dir erzählen«, fuhr die Frau fort, »laß dich nur nicht beim Essen stören.«
Bastian mußte sich Mühe geben, ihren Worten zuzuhören, denn jede neue Frucht verursachte ihm neues Entzücken.
»Vor langer, langer Zeit«, begann die geblümte Frau, »war unsere Kindliche Kaiserin todkrank, denn sie brauchte einen neuen Namen, und den konnte ihr nur ein Menschenkind geben. Aber Menschen kamen nicht mehr nach Phantásien, niemand wußte warum. Und wenn sie sterben mußte, dann wäre es auch das Ende von Phantásien gewesen. Da kam eines Tages oder, besser gesagt, eines Nachts doch wieder ein Mensch - es war ein kleiner Bub, und der gab der Kindlichen Kaiserin den Namen Mondenkind. Sie wurde wieder gesund, und zum Dank versprach sie dem Buben, daß alle seine Wünsche in ihrem Reich Wirklichkeit werden sollten - so lange, bis er seinen Wahren Willen gefunden hätte. Von da an machte der kleine Bub eine lange Reise, von einem Wunsch zum anderen, und jeder erfüllte sich. Und jede Erfüllung führte ihn zu einem neuen Wunsch. Und es waren nicht nur gute Wünsche, sondern auch schlimme, aber die Kindliche Kaiserin macht keinen Unterschied, für sie gilt alles gleich und alles ist gleich wichtig in ihrem Reich. Und auch als schließlich der Elfenbeinturm dabei zerstört wurde, tat sie nichts, um es zu verhindern. Aber mit jeder Wunscherfüllung vergaß der kleine Bub einen Teil seiner Erinnerung an die Welt, aus der er gekommen war. Das machte ihm nicht viel aus, denn er wollte sowieso nicht dorthin zurück. So wünschte er sich weiter und weiter, aber nun hatte er fast alle seine Erinnerungen ausgegeben, und ohne Erinnerungen kann man nichts mehr wünschen. Da war er schon beinahe kein Mensch mehr, sondern fast ein Phantasier geworden. Und seinen Wahren Willen kannte er noch immer nicht. Jetzt bestand die Gefahr, daß er auch noch seine letzten Erinnerungen aufbrauchen würde, ohne dahinter zu kommen. Und das würde bedeuten, daß er nie wieder in seine Welt zurückkehren könnte. Da führte ihn zuletzt sein Weg ins Änderhaus, damit er hier so lange bleiben sollte, bis er seinen Wahren Willen fände. Denn das Änderhaus heißt nicht nur so, weil es sich selbst verändert, sondern weil es auch den ändert, der in ihm wohnt. Und das war sehr wichtig für den kleinen Buben, denn bisher wollte er zwar immer ein anderer sein, als er war, aber er wollte sich nicht ändern.«
An dieser Stelle unterbrach sie sich, denn ihr Besucher hatte aufgehört zu kauen. Er hielt eine angebissene Frucht in der Hand und starrte die geblümte Frau mit offenem Mund an.
»Wenn sie dir nicht schmeckt«, meinte sie besorgt, »dann leg sie ruhig weg und nimm eine andere!«
»Wie?« stotterte Bastian, »o nein, sie ist sehr gut.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte die Frau zufrieden. »Aber ich habe vergessen zu sagen, wie der kleine Bub hieß, der im Änderhaus so lange schon erwartet wurde. Viele in Phantásien nannten ihn einfach nur den »Retter«, andere »den Ritter vom Siebenarmigen Leuchter« oder den »Großen Wissenden« oder auch »Herr und Gebieter«, aber sein wirklicher Name war Bastian Balthasar Bux.«
Danach sah die Frau ihren Gast lange lächelnd an. Er schluckte ein paarmal und sagte dann leise:
»So heiße ich.«
»Na, siehst du!« meinte die Frau und schien kein bißchen überrascht.
Die Knospen auf ihrem Hut und an ihrem Kleid öffneten sich plötzlich alle gleichzeitig und blühten auf.
»Aber hundert Jahre«, wandte Bastian unsicher ein, »bin ich doch noch gar nicht in Phantásien.«
»Oh, in Wirklichkeit warten wir schon viel länger auf dich«, antwortete die Dame, »schon meine Großmutter und die Großmutter meiner Großmutter hat auf dich gewartet. Siehst du, jetzt wird dir eine Geschichte erzählt, die neu ist und doch von uralter Vergangenheit berichtet.«
Bastian erinnerte sich an Graógramáns Worte, damals war er noch am Anfang seiner Reise gestanden. Jetzt schien es ihm wirklich, als wäre es hundert Jahre her.
»Übrigens habe ich dir bis jetzt noch nicht gesagt, wie ich heiße. Ich bin Dame Aiuóla.«
Bastian wiederholte den Namen und hatte ein bißchen Mühe, bis es ihm gelang, ihn richtig auszusprechen. Dann griff er nach einer neuen Frucht. Er biß hinein, und es kam ihm so vor, als ob immer die, die er gerade aß, von allen die köstlichste war. Ein wenig besorgt sah er, daß er schon die vorletzte aß.
»Möchtest du noch mehr?« fragte Dame Aiuóla, die seinen Blick bemerkt hatte. Bastian nickte. Da griff sie auf ihren Hut und ihr Kleid und pflückte Früchte ab, bis die Schale wieder gefüllt war.
»Wachsen die Früchte denn auf deinem Hut?« erkundigte sich Bastian verblüfft.
»Wieso Hut?« Dame Aiuóla blickte ihn verständnislos an. Dann brach sie in lautes, herzliches Lachen aus. »Ach, du meinst wohl, das ist mein Hut, was ich da auf dem Kopf habe? Aber nein, mein schöner Bub, das wächst doch alles aus mir heraus. So wie du Haare hast. Daran kannst du sehen, wie ich mich freue, daß du endlich da bist, darum blühe ich auf. Wenn ich traurig wäre, würde alles verwelken. Aber bitte, vergiß nicht zu essen!«