»Ich weiß nicht«, meinte Bastian verlegen, »man kann doch nicht etwas essen, was aus jemand herauskommt.«
»Warum nicht?« fragte Dame Aiuóla, »kleine Kinder bekommen doch auch die Milch von ihrer Mutter. Das ist doch wunderschön.«
»Schon«, wandte Bastian ein und errötete ein wenig, »aber doch nur, solange sie noch ganz klein sind.«
»Dann«, sagte Dame Aiuóla strahlend, »wirst du eben jetzt wieder ganz klein werden, mein schöner Bub.«
Bastian griff zu und biß in eine neue Frucht, und Dame Aiuóla freute sich darüber und blühte noch prächtiger auf.
Nach einer kleinen Stille meinte sie:
»Mir scheint, es möchte gern, daß wir ins Nebenzimmer umziehen. Wahrscheinlich hat es etwas für dich vorbereitet.«
»Wer?« fragte Bastian und schaute sich um.
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla mit Selbstverständlichkeit.
In der Tat war etwas Merkwürdiges geschehen. Die Stube hatte sich verwandelt, ohne daß Bastian etwas davon bemerkt hatte. Die Zimmerdecke war hoch hinaufgerutscht, während die Wände von drei Seiten ziemlich nahe an den Tisch herangerückt waren. Auf der vierten Seite war noch Platz, dort befand sich eine Tür, die jetzt offenstand.
Dame Aiuóla erhob sich - jetzt war zu sehen, wie groß sie war - und schlug vor:
»Gehen wir! Es hat seinen Dickkopf. Es nützt nichts, ihm zu widerstreben, wenn es sich eine Überraschung ausgedacht hat. Lassen wir ihm seinen Willen! Es meint's außerdem meistens gut.«
Sie ging durch die Tür nach nebenan. Bastian folgte ihr, nahm aber vorsorglich die Schale mit den Früchten mit.
Der Raum war groß wie ein Saal, und doch war es ein Speisezimmer, das Bastian irgendwie bekannt vorkam. Befremdlich war nur, daß alle Möbel, die hier standen, auch der Tisch und die Stühle, riesenhaft waren, viel zu groß, als daß Bastian hätte hinaufkommen können.
»Schau einer an!« sagte Dame Aiuóla belustigt, »dem Änderhaus fällt doch immer wieder was Neues ein. Jetzt hat es für dich ein Zimmer gemacht, wie es einem kleinen Kind erscheinen muß.«
»Wieso?« fragte Bastian, »war der Saal denn vorher nicht da?«
»Natürlich nicht«, antwortete sie, »weißt du, das Änderhaus ist sehr lebendig. Es beteiligt sich gern auf seine Art an unserer Unterhaltung. Ich glaube, es will dir damit etwas sagen.«
Dann setzte sie sich auf einen Stuhl an den Tisch, aber Bastian versuchte vergebens auf den anderen Stuhl hinaufzukommen. Dame Aiuóla mußte ihm helfen und ihn hinaufheben, und auch dann noch reichte er gerade mit der Nase über die Tischplatte. Er war recht froh, daß er die Schale mit den Früchten mitgenommen hatte und behielt sie auf dem Schoß. Wenn sie auf dem Tisch gestanden hätte, wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
»Mußt du oft so umziehen?« fragte er.
»Oft nicht«, antwortete Dame Aiuóla, »höchstens drei- bis viermal pro Tag. Manchmal macht das Änderhaus auch einfach bloß Spaß mit einem, dann sind auf einmal alle Zimmer umgekehrt, der Boden oben und die Decke unten oder dergleichen. Aber das ist reiner Übermut, und es wird auch gleich wieder vernünftig, wenn ich ihm ins Gewissen rede. Im Grunde ist es ein sehr liebes Haus, und ich fühle mich wirklich behaglich darin. Wir haben viel miteinander zu lachen.«
»Aber ist das denn nicht gefährlich?« erkundigte sich Bastian, »ich meine, nachts zum Beispiel, wenn man schläft und das Zimmer wird immer kleiner?«
»Wo denkst du hin, schöner Bub?« rief Dame Aiuóla fast entrüstet, »es mag mich doch gern, und dich mag es auch. Es freut sich über dich.«
»Und wenn es jemand nicht mag?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie, »was du aber auch für Fragen stellst! Bis jetzt war noch niemand hier außer mir und dir.«
»Ach so!« sagte Bastian, »dann bin ich der erste Gast?«
»Natürlich.«
Bastian blickte sich in dem riesigen Raum um.
»Man sollte gar nicht glauben, daß dieses Zimmer überhaupt in das Haus hineinpaßt. Von außen sah es nicht so groß aus.«
»Das Änderhaus«, erklärte Dame Aiuóla, »ist von innen größer als von außen.«
Inzwischen war die Abenddämmerung hereingebrochen, und es wurde nach und nach dunkler in dem Zimmer. Bastian lehnte sich in seinen großen Stuhl zurück und stützte den Kopf auf. Er fühlte sich auf eine wunderbare Art schläfrig.
»Warum«, fragte er, »hast du so lang auf mich gewartet, Dame Aiuóla?«
»Ich habe mir immer ein Kind gewünscht«, antwortete sie, »ein kleines Kind, das ich verwöhnen darf, das meine Zärtlichkeit braucht, für das ich sorgen kann - jemand wie du, mein schöner Bub.«
Bastian gähnte. Er fühlte sich durch ihre warme Stimme auf unwiderstehliche Weise eingelullt.
»Aber du hast doch gesagt«, antwortete er, »daß auch deine Mutter und deine Großmutter schon auf mich gewartet haben.«
Dame Aiuólas Gesicht lag jetzt im Dunkeln.
»Ja«, hörte er sie sagen, »auch meine Mutter und meine Großmutter haben sich ein Kind gewünscht. Aber nur ich habe jetzt eins.«
Bastian fielen die Augen zu. Mit Mühe fragte er:
»Wieso, deine Mutter hatte doch dich, als du klein warst. Und deine Großmutter hatte deine Mutter. Also hatten sie doch Kinder?«
»Nein, mein schöner Bub«, antwortete die Stimme leise, »bei uns ist das anders. Wir sterben nicht und werden nicht geboren. Wir sind immer dieselbe Dame Aiuóla, und doch sind wir es auch wieder nicht. Als meine Mutter alt wurde, da verdorrte sie, alle ihre Blätter fielen ab wie bei einem Baum im Winter, sie zog sich ganz in sich zurück. So blieb sie lange Zeit. Aber dann begann sie eines Tages von neuem junge Blättchen hervorzutreiben, Knospen und Blüten und zuletzt Früchte. Und so bin ich entstanden, denn diese neue Dame Aiuóla war ich. Und genauso war es bei meiner Großmutter, als sie meine Mutter zur Welt brachte. Wir Damen Aiuóla können immer erst ein Kind haben, wenn wir vorher verwelken. Aber dann sind wir eben unser eigenes Kind und können nicht mehr Mutter sein. Darum bin ich so froh, daß du nun da bist, mein schöner Bub…«
Bastian antwortete nicht mehr. Er war in einen süßen Halbschlaf hinübergeglitten, in dem er ihre Worte wie einen Singsang vernahm. Er hörte, wie sie aufstand und zu ihm trat und sich über ihn beugte. Sie streichelte ihn sanft übers Haar und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. Dann fühlte er, wie sie ihn hochhob und auf dem Arm hinaustrug. Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter wie ein kleines Kind. Immer tiefer sank er in die warme Dunkelheit des Schlafes hinunter. Ihm war, als ob er ausgezogen und in ein weiches, duftendes Bett gelegt würde. Als letztes hörte er noch - schon aus weiter Ferne - wie die schöne Stimme leise ein Liedchen sang:
»Schlaf, mein Liebling! Gute Nacht!
Hast so vieles durchgemacht.
Großer Herr, sei wieder klein!
Schlaf, mein Liebling, schlafe ein!«
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich so wohl und so zufrieden wie nie zuvor. Er blickte sich um und sah, daß er in einem sehr gemütlichen kleinen Zimmer lag - und zwar in einem Kinderbettchen!