Allerdings war es ein sehr großes Kinderbettchen oder vielmehr, es war so, wie es einem kleinen Kind erscheinen mußte. Einen Augenblick lang kam ihm das lächerlich vor, denn er war ja ganz gewiß kein kleines Kind mehr. Alles, was Phantásien ihm an Kräften und Gaben geschenkt hatte, besaß er ja noch immer. Auch das Zeichen der Kindlichen Kaiserin hing nach wie vor um seinen Hals. Aber schon im nächsten Moment war es ihm ganz gleichgültig, ob es nun lächerlich erscheinen mochte oder nicht, daß er hier lag. Außer ihm und Dame Aiuóla würde es niemals jemand erfahren, und sie beide wußten, daß alles gut und richtig war.
Er stand auf, wusch sich, zog sich an und ging hinaus. Er mußte eine Holztreppe hinuntersteigen und kam in das große Speisezimmer, das sich über Nacht allerdings in eine Küche verwandelt hatte. Dame Aiuóla wartete schon mit dem Frühstück auf ihn. Auch sie war äußerst guter Laune, alle ihre Blumen blühten, sie sang und lachte und tanzte sogar mit ihm um den Küchentisch herum. Nach der Mahlzeit schickte sie ihn hinaus, damit er an die frische Luft käme.
In dem weiten Rosenhag, der das Änderhaus umgab, schien ein ewiger Sommer zu herrschen. Bastian strolchte herum, beobachtete die Bienen, die emsig in den Blüten schmausten, hörte den Vögeln zu, die in allen Büschen sangen, spielte mit den Eidechsen, die so zutraulich waren, daß sie ihm auf die Hand krochen, und mit den Hasen, die sich von ihm streicheln ließen. Manchmal warf er sich unter einen Busch, roch den.süßen Duft der Rosen, blinzelte in die Sonne und ließ die Zeit vorüberrauschen wie einen Bach, ohne irgend etwas Bestimmtes zu denken.
So vergingen Tage, und aus den Tagen wurden Wochen. Er achtete nicht darauf. Dame Aiuóla war fröhlich, und Bastian überließ sich ganz und gar ihrer mütterlichen Fürsorge und Zärtlichkeit. Ihm war, als habe er, ohne es zu wissen, lange nach etwas gehungert, das ihm nun in Fülle zuteil wurde. Und er konnte sich schier nicht daran ersättigen.
Eine Zeitlang durchstöberte er das Änderhaus vom Dachstuhl bis zum Keller. Das war eine Beschäftigung, die einem so bald nicht langweilig wurde, da sich alle Räume ja ständig veränderten und immer wieder Neues zu entdecken war. Das Haus gab sich offensichtlich alle Mühe, seinen Gast zu unterhalten. Es produzierte Spielzimmer, Eisenbahnen, Kasperletheater und Rutschbahnen, ja sogar ein großes Karussell.
Manchmal unternahm Bastian auch ganztägige Streifzüge in die Umgebung. Aber sehr weit entfernte er sich niemals vom Änderhaus, denn es geschah regelmäßig, daß ihn plötzlich ein wahrer Heißhunger nach den Früchten Aiuólas befiel. Von einem Augenblick zum anderen konnte er es kaum noch erwarten, zu ihr zurückzukehren und sich nach Herzenslust satt zu essen.
Abends hatten sie oft lange Gespräche miteinander. Er erzählte ihr von allem, was er in Phantásien erlebt hatte, von Perelín und Graógramán, von Xayíde und Atréju, den er so schwer verwundet oder sogar getötet hatte.
»Ich habe alles falsch gemacht«, sagte er, »ich habe alles mißverstanden. Mondenkind hat mir so viel geschenkt, und ich habe damit nur Unheil angerichtet, für mich und für Phantásien.«
Dame Aiuóla sah ihn lange an.
»Nein«, antwortete sie, »das glaube ich nicht. Du bist den Weg der Wünsche gegangen, und der ist nie gerade. Du hast einen großen Umweg gemacht, aber es war dein Weg. Und weißt du, warum? Du gehörst zu denen, die erst zurückkehren können, wenn sie die Quelle finden, wo das Wasser des Lebens entspringt. Und das ist der geheimste Ort Phantásiens. Dorthin gibt es keinen einfachen Weg.«
Und nach einer kleinen Stille fügte sie hinzu:
»Jeder Weg, der dorthin führt, war am Ende der richtige.«
Da mußte Bastian plötzlich weinen. Er wußte selbst nicht warum. Ihm war, als ob sich ein Knoten in seinem Herzen auflöse und in Tränen zerging. Er schluchzte und schluchzte und konnte nicht aufhören. Dame Aiuóla nahm ihn auf ihren Schoß und streichelte ihn sanft, und er vergrub sein Gesicht in den Blumen auf ihrer Brust und weinte, bis er ganz satt und müde war.
An diesem Abend redeten sie nicht mehr weiter.
Erst am nächsten Tag kam Bastian noch einmal auf seine Suche zu sprechen:
»Weißt du, wo ich das Wasser des Lebens finden kann?«
»An der Grenze Phantásiens«, sagte Dame Aiuóla.
»Aber Phantásien hat keine Grenzen«, antwortete er.
»Doch, aber sie liegen nicht außen, sondern innen. Dort, von woher die Kindliche Kaiserin all ihre Macht empfängt, und wohin sie selbst doch nicht kommen kann.«
»Und da soll ich hinfinden?« fragte Bastian bekümmert, »ist es nicht schon zu spät?«
»Es gibt nur einen Wunsch, mit dem du dort hinfindest: Mit dem letzten.«
Bastian erschrak.
»Dame Aiuóla - für alle meine Wünsche, die sich durch AURYN erfüllt haben, habe ich etwas vergessen. Ist das hier auch so?«
Sie nickte langsam.
»Aber ich merke davon gar nichts!«
»Hast du es denn die anderen Male gemerkt? Was du vergessen hast, das kannst du nicht mehr wissen.«
»Und was vergesse ich denn jetzt?«
»Ich will es dir sagen, wenn der rechte Augenblick da ist. Sonst würdest du es festhalten.«
»Muß es denn so sein, daß ich alles verliere?«
»Nichts geht verloren«, sagte sie, »alles verwandelt sich.«
»Aber dann«, sagte Bastian beunruhigt, »müßte ich mich vielleicht beeilen. Ich dürfte nicht hier bleiben.«
Sie streichelte sein Haar.
»Mach dir keine Sorgen. Es dauert, solang es dauert. Wenn dein letzter Wunsch erwacht, dann wirst du es wissen - und ich auch.«
Von diesem Tage an begann sich tatsächlich etwas zu ändern, obgleich Bastian selbst noch nichts davon bemerkte. Die verwandelnde Kraft des Änderhauses tat ihre Wirkung. Doch wie alle wahren Veränderungen ging sie leise und langsam vor sich wie das Wachstum einer Pflanze.
Die Tage im Änderhaus verstrichen, und noch immer dauerte der Sommer an. Bastian genoß es auch weiterhin, sich wie ein Kind von Dame Aiuóla verwöhnen zu lassen. Auch ihre Früchte schmeckten ihm noch immer so köstlich wie zu Anfang, doch nach und nach war sein Heißhunger gestillt. Er aß weniger davon. Und sie bemerkte es, ohne jedoch ein Wort darüber zu verlieren. Auch von ihrer Fürsorge und Zärtlichkeit fühlte er sich gesättigt. Und in demselben Maß, wie sein Bedürfnis danach abnahm, erwachte in ihm eine Sehnsucht ganz anderer Art, ein Verlangen, wie er es bisher noch nie empfunden hatte und das sich in jeder Hinsicht von all seinen bisherigen Wünschen unterschied: Die Sehnsucht, selbst lieben zu können. Mit Verwunderung und Trauer wurde er inne, daß er es nicht konnte. Doch der Wunsch danach wurde stärker und stärker.
Und eines Abends, als sie wieder beisammensaßen, sprach er darüber mit Dame Aiuóla.
Nachdem sie ihm zugehört hatte, schwieg sie lange. Ihr Blick ruhte mit einem Ausdruck auf Bastian, den er nicht verstand.
»Jetzt hast du deinen letzten Wunsch gefunden«, sagte sie, »dein Wahrer Wille ist es, zu lieben.«
»Aber warum kann ich es nicht, Dame Aiuóla?«
»Das kannst du erst, wenn du vom Wasser des Lebens getrunken hast«, antwortete sie, »und du kannst nicht in deine Welt zurück, ohne anderen davon mitzubringen.«
Bastian schwieg verwirrt. »Aber du?« fragte er, »hast du denn nicht auch schon davon getrunken?«