»Nein«, sagte Dame Aiuóla, »bei mir ist das etwas anderes. Ich brauche nur jemand, dem ich meinen Überfluß schenken kann.«
»War das denn nicht Liebe?«
Dame Aiuóla überlegte eine Weile, dann erwiderte sie:
»Es war, was du dir gewünscht hast.«
»Können phantásische Wesen auch nicht lieben - wie ich?« fragte er bang.
»Es heißt«, entgegnete sie leise, »daß es einige wenige Geschöpfe Phantásiens gibt, die vom Wasser des Lebens trinken durften. Aber niemand weiß, wer sie sind. Und es gibt eine Verheißung, von der wir nur selten sprechen, daß einmal in ferner Zukunft eine Zeit kommen wird, wo die Menschen die Liebe auch nach Phantásien bringen werden. Dann werden beide Welten nur noch eine sein. Doch was das bedeutet, weiß ich nicht.«
»Dame Aiuóla«, fragte Bastian ebenso leise, »du hast versprochen, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, willst du mir sagen, was ich vergessen mußte, um meinen letzten Wunsch zu finden. Ist jetzt der rechte Augenblick gekommen?«
Sie nickte.
»Du mußtest Vater und Mutter vergessen. Jetzt hast du nichts mehr als deinen Namen.«
Bastian dachte nach.
»Vater und Mutter?« sagte er langsam. Aber die Worte bedeuteten ihm nichts mehr. Er konnte sich nicht erinnern.
»Was soll ich jetzt tun?« fragte er.
»Du mußt mich verlassen«, antwortete sie, »deine Zeit im Änderhaus ist vorüber.«
»Und wo soll ich hin?«
»Dein letzter Wunsch wird dich führen. Verliere ihn nicht!«
»Soll ich jetzt gleich gehen?«
»Nein, es ist spät. Morgen früh bei Tagesanbruch. Du hast noch eine Nacht im Änderhaus. Jetzt wollen wir Schlafengehen.«
Bastian stand auf und trat zu ihr. Erst jetzt, als er ihr nah war, bemerkte er in der Dunkelheit, daß all ihre Blüten verwelkt waren.
»Kümmere dich nicht darum!« sagte sie, »auch morgen früh sollst du dich nicht um mich kümmern. Geh deinen Weg! Es ist alles gut und richtig so. Gute Nacht, mein schöner Bub.«
»Gute Nacht, Dame Aiuóla«, murmelte Bastian.
Dann ging er in sein Zimmer hinauf.
Als er am nächsten Tag herunterkam, sah er, daß Dame Aiuóla noch immer auf demselben Platz saß. Alle Blätter, Blüten und Früchte waren von ihr abgefallen. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus wie ein schwarzer, abgestorbener Baum. Lange stand Bastian vor ihr und schaute sie an. Dann sprang plötzlich eine Tür auf, die ins Freie führte.
Ehe er hinausging, wandte er sich noch einmal zurück und sagte, ohne zu wissen, ob er Dame Aiuóla oder das Haus meinte oder alle beide:
»Danke, Danke für alles!«
Dann trat er durch die Tür hinaus. Draußen war es über Nacht Winter geworden. Der Schnee lag knietief, und von dem blühenden Rosenhag waren nur noch schwarze Dornenhecken übrig. Kein Wind regte sich. Es war bitterkalt und sehr still.
Bastian wollte zurück ins Haus, um seinen Mantel zu holen, aber Türen und Fenster waren verschwunden. Es hatte sich rundum geschlossen. Fröstelnd machte er sich auf den Weg.
25.
Das Bergwerk der Bilder
Yor, der Blinde Bergmann, stand vor seiner Hütte und lauschte in die Weite der Schneefläche hinaus, die sich nach allen Seiten erstreckte. Die Stille war so vollkommen, daß sein feines Ohr eines Wanderers Schritte im Schnee knirschen hörte, der noch sehr weit entfernt war. Doch die Schritte kamen auf die Hütte zu.
Yor war ein großer, alter Mann, doch war sein Gesicht bartlos und ohne Furchen. Alles an ihm, sein Kleid, sein Gesicht, sein Haar war grau wie Stein. Wie er so reglos dastand, sah er aus, als sei er aus einem großen Stück Lava gemeißelt. Nur seine blinden Augen waren dunkel, und in ihrer Tiefe war ein Glimmen wie von einer kleinen Flamme.
Als Bastian - denn er war der Wanderer - herangekommen war, sagte er:
»Guten Tag. Ich habe mich verirrt. Ich suche nach der Quelle, wo das Wasser des Lebens entspringt. Kannst du mir helfen?«
Der Bergmann horchte auf die Stimme hin, die da sprach.
»Du hast dich nicht verirrt«, flüsterte er. »Aber sprich leise, sonst zerfallen meine Bilder.«
Er winkte Bastian, und der trat hinter ihm in die Hütte.
Sie bestand aus einem einzigen kleinen Raum, der schmucklos und äußerst karg eingerichtet war. Ein Holztisch, zwei Stühle, eine Pritsche zum Schlafen und ein Brettergestell, in dem allerhand Nahrungsmittel und Geschirr aufbewahrt wurden. Auf einem offenen Herd brannte ein kleines Feuer, darüber hing ein Kessel, in dem eine Suppe dampfte.
Yor schöpfte zwei Teller voll für sich und Bastian, stellte sie auf den Tisch und forderte den Gast mit einer Handbewegung zum Essen auf. Schweigend nahmen sie ihre Mahlzeit ein.
Dann lehnte sich der Bergmann zurück, seine Augen blickten durch Bastian hindurch in eine weite Ferne, flüsternd fragte er:
»Wer bist du?«
»Ich heiße Bastian Balthasar Bux.«
»Ah, deinen Namen weißt du also noch.«
»Ja. Und wer bist du?«
»Ich bin Yor, den man den Blinden Bergmann nennt. Aber ich bin nur im Licht blind. Unter Tag in meinem Bergwerk, wo vollkommene Finsternis herrscht, kann ich schauen.«
»Was ist das für ein Bergwerk?«
»Es heißt die Grube Minroud. Es ist das Bergwerk der Bilder.«
»Das Bergwerk der Bilder?« wiederholte Bastian verwundert, »so etwas habe ich noch nie gehört.«
Yor schien immerfort auf etwas zu lauschen.
»Und doch«, raunte er, »ist es gerade für solche wie dich da. Für Menschen, die den Weg zum Wasser des Lebens nicht finden können.«
»Was für Bilder sind es denn?« wollte Bastian wissen.
Yor schloß die Augen und schwieg eine Weile. Bastian wußte nicht, ob er seine Frage wiederholen sollte. Dann hörte er den Bergmann flüstern:
»Nichts geht verloren in der Welt. Hast du jemals etwas geträumt und beim Aufwachen nicht mehr gewußt, was es war?«
»Ja«, antwortete Bastian, »oft.«
Yor nickte gedankenvoll. Dann erhob er sich und machte Bastian ein Zeichen, ihm zu folgen. Ehe sie aus der Hütte traten, faßte er ihn mit hartem Griff an der Schulter und raunte ihm ins Ohr:
»Aber kein Wort, kein Laut, verstanden? Was du sehen wirst, ist meine Arbeit von vielen Jahren. Jedes Geräusch kann sie zerstören. Darum schweige und tritt leise auf!«
Bastian nickte, und sie verließen die Hütte. Hinter dieser war ein hölzerner Förderturm errichtet, unter dem ein Schacht senkrecht in die Erdentiefe hinunterführte. Sie gingen daran vorbei in die Weite der Schneefläche hinaus. Und nun sah Bastian die Bilder, die hier lagen wie in weiße Seide eingebettet, als wären es kostbare Juwelen.
Es waren hauchdünne Tafeln aus einer Art Marienglas, durchsichtig und farbig und in allen Größen und Formen, rechteckige und runde, bruchstückartige und unversehrte, manche groß wie Kirchenfenster, andere klein wie Miniaturen auf einer Dose. Sie lagen, ungefähr nach Größe und Form geordnet, in Reihen, die sich bis zum Horizont der weißen Ebene erstreckten.
Was diese Bilder darstellten war rätselhaft. Da gab es vermummte Gestalten, die in einem großen Vogelnest dahinzuschweben schienen, oder Esel, die Richtertalare trugen, es gab Uhren, die wie weicher Käse zerflossen, oder Gliederpuppen, die auf grell beleuchteten, menschenleeren Plätzen standen. Da waren Gesichter und Köpfe, die ganz aus Tieren zusammengesetzt waren, und andere, die eine Landschaft bildeten. Aber es gab auch ganz gewöhnliche Bilder, Männer, die ein Kornfeld abmähten, und Frauen, die auf einem Balkon saßen. Es gab Gebirgsdörfer und Meereslandschaften, Kriegsszenen und Zirkusaufführungen, Straßen und Zimmer und immer wieder Gesichter, alte und junge, weise und einfältige, Narren und Könige, finstere und heitere. Da waren grausige Bilder, Hinrichtungen und Totentänze, und lustige Bilder von jungen Damen auf einem Walroß, oder von einer Nase, die herumspazierte und von allen Vorübergehenden gegrüßt wurde.