Je länger sie an den Bildern entlangwanderten, desto weniger konnte Bastian ergründen, was es mit ihnen auf sich hatte. Nur eines war ihm klar: Es gab einfach alles auf ihnen zu sehen, wenn auch meistens in eigentümlicher Zusammenstellung.
Nachdem er viele Stunden neben Yor an den Reihen der Tafeln vorübergegangen war, senkte sich die Dämmerung über die weite Schneefläche. Sie kehrten zur Hütte zurück. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte Yor mit leiser Stimme:
»War eines dabei, das du erkannt hast?«
»Nein«, erwiderte Bastian.
Der Bergmann wiegte bedenkenvoll den Kopf.
»Warum?« wollte Bastian wissen, »was sind das für Bilder?«
»Es sind die vergessenen Träume aus der Menschenwelt«, erklärte Yor. »Ein Traum kann nicht zu nichts werden, wenn er einmal geträumt wurde. Aber wenn der Mensch, der ihn geträumt hat, ihn nicht behält - wo bleibt er dann? Hier bei uns in Phantásien, dort unten in der Tiefe unserer Erde. Dort lagern sich die vergessenen Träume ab in feinen, feinen Schichten, eine über der anderen. Je tiefer man hinuntergräbt, desto dichter liegen sie. Ganz Phantásien steht auf Grundfesten aus vergessenen Träumen.«
»Sind auch meine dabei?« fragte Bastian mit großen Augen.
Yor nickte nur.
»Und du meinst, ich muß sie finden?« forschte Bastian weiter.
»Wenigstens einen. Einer genügt«, antwortete Yor.
»Aber wozu?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann wandte ihm sein Gesicht zu, das jetzt nur noch vom Schein des kleinen Feuers auf dem Herd erleuchtet wurde. Seine blinden Augen blickten wieder durch Bastian hindurch wie in weite Ferne.
»Hör zu, Bastian Balthasar Bux«, sagte er, »ich rede nicht gern viel. Die Stille ist mir lieber. Aber dieses eine Mal sage ich es dir. Du suchst das Wasser des Lebens. Du möchtest lieben können, um zurückzufinden in deine Welt. Lieben - das sagt sich so! Das Wasser des Lebens wird dich fragen: Wen? Lieben kann man nämlich nicht einfach so irgendwie und allgemein. Aber du hast alles vergessen außer deinem Namen. Und wenn du nicht antworten kannst, wirst du nicht trinken dürfen. Drum kann dir nur noch ein vergessener Traum helfen, den du wiederfindest, ein Bild, das dich zur Quelle führt. Aber dafür wirst du das Letzte vergessen müssen, was du noch hast: Dich selbst. Und das bedeutet harte und geduldige Arbeit. Bewahre meine Worte gut, denn ich werde sie nie wieder aussprechen.«
Danach legte er sich auf seine Holzpritsche und schlief ein. Bastian blieb nichts anderes übrig, als mit dem harten, kalten Boden als Lagerstätte vorlieb zu nehmen. Aber das machte ihm nichts aus.
Als er am nächsten Morgen mit klammen Gliedern erwachte, war Yor schon fortgegangen. Wahrscheinlich war er in die Grube Minroud eingefahren. Bastian nahm sich selber einen Teller der heißen Suppe, die ihn erwärmte, aber ihm nicht besonders mundete. In ihrer Salzigkeit erinnerte sie ein wenig an den Geschmack von Tränen und Schweiß.
Dann ging er hinaus und wanderte durch den Schnee der weiten Ebene an den unzähligen Bildern vorüber. Eines nach dem anderen betrachtete er aufmerksam, denn nun wußte er ja, was für ihn davon abhing, aber er konnte keines entdecken, das ihn in irgendeiner Weise besonders anrührte. Sie waren ihm alle ganz gleichgültig.
Gegen Abend sah er Yor in einem Förderkorb aus dem Schacht des Bergwerks aufsteigen. Auf dem Rücken trug er in einem Gestell einige verschieden große Tafeln des hauchdünnen Marienglases. Bastian begleitete ihn schweigend, während er noch einmal weit hinausging auf die Ebene und seine neuen Funde mit größter Behutsamkeit am Ende einer Reihe in den weichen Schnee bettete. Eines der Bilder stellte einen Mann dar, dessen Brust ein Vogelkäfig war, in dem zwei Tauben saßen. Ein anderes zeigte eine steinerne Frau, die auf einer großen Schildkröte ritt. Ein sehr kleines Bild ließ nur einen Schmetterling erkennen, dessen Flügel Flecken in der Form von Buchstaben auf wiesen. Es waren noch einige andere Bilder da, aber keines sagte Bastian irgend etwas.
Als er mit dem Bergmann wieder in der Hütte saß, fragte er:
»Was geschieht mit den Bildern, wenn der Schnee schmilzt?«
»Hier ist immer Winter«, entgegnete Yor.
Das war ihre ganze Unterhaltung an diesem Abend.
Während der folgenden Tage suchte Bastian weiter unter den Bildern nach einem, das er wiedererkannte oder das ihm wenigstens etwas Besonderes bedeutete - aber vergebens. Abends saß er mit dem Bergmann in der Hütte, und da dieser schwieg, gewöhnte Bastian sich daran, ebenfalls zu schweigen. Auch die behutsame Art sich zu bewegen, um kein Geräusch zu machen, das die Bilder zerfallen lassen könnte, übernahm er nach und nach von Yor.
»Jetzt habe ich alle Bilder gesehen«, sagte Bastian eines Abends, »für mich ist keines darunter.«
»Schlimm«, antwortete Yor.
»Was soll ich tun?« fragte Bastian, »soll ich auf die neuen Bilder warten, die du heraufbringst?«
Yor überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich an deiner Stelle«, flüsterte er, »würde selbst in die Grube Minroud einfahren und vor Ort graben.«
»Aber ich habe nicht deine Augen«, meinte Bastian, »ich kann in der Finsternis nicht sehen.«
»Hat man dir denn kein Licht gegeben auf deiner weiten Reise?« fragte Yor und blickte wieder durch Bastian hindurch, »keinen leuchtenden Stein, gar nichts, was dir jetzt helfen könnte?«
»Doch«, antwortete Bastian traurig, »aber ich habe Al' Tsahir zu etwas anderem gebraucht.«
»Schlimm«, wiederholte Yor mit steinernem Gesicht.
»Was rätst du mir?« wollte Bastian wissen.
Der Bergmann schwieg wieder lange, ehe er erwiderte:
»Dann mußt du eben im Dunkeln arbeiten.«
Bastian überlief ein Schauder. Zwar hatte er noch immer alle Kraft und Furchtlosigkeit, die ihm AURYN verliehen hatte, doch bei der Vorstellung, so tief, tief dort unten im Inneren der Erde in völliger Finsternis zu liegen, wurde das Mark seiner Knochen zu Eis. Er sagte nichts mehr, und beide legten sich schlafen.
Am nächsten Morgen rüttelte ihn der Bergmann an der Schulter.
Bastian richtete sich auf.
»Iß deine Suppe und komm!« befahl Yor kurz angebunden.
Bastian tat es.
Er folgte dem Bergmann zu dem Schacht, bestieg mit ihm zusammen den Förderkorb, und dann fuhr er in die Grube Minroud ein. Tiefer und tiefer ging es hinunter. Längst war der letzte spärliche Lichtschein, der durch die Öffnung des Schachtes drang, geschwunden, und noch immer sank der Korb in der Finsternis abwärts. Dann endlich zeigte ein Ruck, daß sie auf dem Grunde angelangt waren. Sie stiegen aus.
Hier unten war es sehr viel wärmer als oben auf der winterlichen Ebene, und schon nach kurzem begann Bastian der Schweiß am ganzen Körper auszubrechen, während er sich bemühte, den Bergmann, der rasch vor ihm herging, nicht im Dunkeln zu verlieren. Es war ein verschlungener Weg durch zahllose Stollen, Gänge und bisweilen auch Hallen, wie aus einem leisen Echo ihrer Schritte zu erraten war. Bastian stieß sich mehrmals sehr schmerzhaft an Vorsprüngen und Stützbalken, doch Yor nahm keine Notiz davon.