An diesem ersten Tag und auch noch an einigen folgenden unterwies der Bergmann ihn schweigend, nur indem er Bastians Hände führte, in der Kunst, die feinen, hauchzarten Marienglasschichten voneinander zu trennen und behutsam abzuheben. Es gab dazu Werkzeuge, die sich wie hölzerne oder hörnerne Spachtel anfühlten, zu Gesicht bekam er sie niemals, denn sie blieben an der Arbeitsstelle liegen, wenn das Tagewerk getan war.
Nach und nach erlernte er, sich dort unten in der völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er erkannte die Gänge und Stollen mit einem neuen Sinn, den er nicht hätte erklären können. Und eines Tages wies Yor ihn wortlos, nur durch Berührung mit seinen Händen an, von nun an allein in einem niedrigen Stollen zu arbeiten, in den man nur kriechend eindringen konnte. Bastian gehorchte. Es war sehr eng vor Ort, und über ihm lag die Bergeslast des Urgesteins.
Eingerollt wie ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter lag er in den dunklen Tiefen der Grundfesten Phantásiens und schürfte geduldig nach einem vergessenen Traum, einem Bild, das ihn zum Wasser des Lebens führen konnte.
Da er nichts sehen konnte in der ewigen Nacht des Erdinneren, konnte er auch keine Auswahl und keine Entscheidung treffen. Er mußte darauf hoffen, daß der Zufall oder ein barmherziges Schicksal ihn irgendwann den rechten Fund machen lassen würde. Abend für Abend brachte er nach oben ans verlöschende Tageslicht, was er in den Tiefen der Grube Minroud abzulösen vermocht hatte. Und Abend für Abend war seine Arbeit umsonst gewesen. Doch Bastian klagte nicht und empörte sich nicht. Er hatte alles Mitleid mit sich selbst verloren. Er war geduldig und still geworden. Obwohl seine Kräfte unerschöpflich waren, fühlte er sich oft sehr müde.
Wie lange diese harte Zeit dauerte, läßt sich nicht sagen, denn solche Arbeit läßt sich nicht nach Tagen oder Monaten bemessen. Jedenfalls geschah es eines Abends, daß er ein Bild mitbrachte, das ihn auf der Stelle so sehr aufwühlte, daß er sich zurückhalten mußte, keinen Überraschungslaut auszustoßen und damit alles zu zerstören.
Auf der zarten Marienglastafel - sie war nicht sehr groß, hatte nur etwa das Format einer gewöhnlichen Buchseite - war sehr klar und deutlich ein Mann zu sehen, der einen weißen Kittel trug. In der einen Hand hielt er ein Gipsgebiß. Er stand da, und seine Haltung und der stille, bekümmerte Ausdruck in seinem Gesicht griffen Bastian ans Herz. Aber das, was ihn am meisten betroffen machte, war, daß der Mann in einen glasklaren Eisblock eingefroren war. Ganz und gar und von allen Seiten umgab ihn eine undurchdringliche, aber vollkommen durchsichtige Eisschicht.
Während Bastian das Bild betrachtete, das vor ihm im Schnee lag, erwachte in ihm Sehnsucht nach diesem Mann, den er nicht kannte. Es war ein Gefühl, das wie aus weiter Ferne herankam, wie eine Springflut im Meer, die man anfangs kaum wahrnimmt, bis sie näher und näher kommt und zuletzt zur gewaltigen, haushohen Woge wird, die alles mit sich reißt und hinwegschwemmt. Bastian ertrank fast darin und rang nach Luft. Das Herz tat ihm weh, es war nicht groß genug für eine so riesige Sehnsucht. In dieser Flutwelle ging alles unter, was er noch an Erinnerung an sich selbst besaß. Und er vergaß das Letzte, was er noch hatte: Seinen eigenen Namen.
Als er später zu Yor in die Hütte trat, schwieg er. Auch der Bergmann sagte nichts, aber er blickte lange nach ihm hin, wobei seine Augen wieder wie in weite Ferne zu schauen schienen, und dann ging zum ersten Mal in all dieser Zeit ein kurzes Lächeln über seine steingrauen Züge.
In dieser Nacht konnte der Junge, der nun keinen Namen mehr hatte, trotz aller Müdigkeit nicht einschlafen. Immerfort sah er das Bild vor sich. Ihm war, als ob der Mann ihm etwas sagen wollte, aber es nicht konnte, weil er in dem Eisblock eingeschlossen war. Der Junge ohne Namen wollte ihm helfen, wollte machen, daß dieses Eis taute. Wie in einem wachen Traum sah er sich selbst den Eisblock umarmen, um ihn mit der Wärme seines Körpers zum Schmelzen zu bringen. Aber alles war vergebens.
Doch dann hörte er plötzlich, was der Mann ihm sagen wollte, hörte es nicht mit den Ohren, sondern tief in seinem eigenen Herzen:
»Hilf mir bitte! Laß mich nicht im Stich! Allein komme ich aus diesem Eis nicht heraus. Hilf mir! Nur du kannst mich daraus befreien - nur du!«
Als sie sich am nächsten Morgen bei Tagesgrauen erhoben, sagte der Junge ohne Namen zu Yor:
»Ich fahre heute nicht mehr mit dir in die Grube Minroud ein.«
»Willst du mich verlassen?«
Der Junge nickte. »Ich will gehen und das Wasser des Lebens suchen.«
»Hast du das Bild gefunden, das dich führen wird?«
»Ja.«
»Willst du es mir zeigen?«
Der Junge nickte abermals. Beide gingen hinaus in den Schnee, wo das Bild lag. Der Junge sah es an, aber Yor richtete seine blinden Augen auf das Gesicht des Jungen, als blicke er durch ihn hindurch in eine weite Ferne. Er schien lange auf etwas hinzuhorchen. Endlich nickte er.
»Nimm es mit«, flüsterte er, »und verliere es nicht. Wenn du es verlierst oder wenn es zerstört wird, dann ist für dich alles zu Ende. Denn in Phantásien bleibt dir nun nichts mehr. Du weißt, was das heißt.«
Der Junge, der keinen Namen mehr hatte, stand mit gesenktem Kopf und schwieg eine Weile. Dann sagte er ebenso leise:
»Danke, Yor, für das, was du mich gelehrt hast.«
Sie gaben sich die Hände.
»Du warst ein guter Bergknappe«, raunte Yor, »und hast fleißig gearbeitet.«
Damit wandte er sich ab und ging auf den Schacht der Grube Minroud zu. Ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg er in den Förderkorb und fuhr in die Tiefe.
Der Junge ohne Namen hob das Bild aus dem Schnee auf und stapfte in die Weite der weißen Ebene hinaus.
Viele Stunden war er schon so gewandert, längst war Yors Hütte am Horizont hinter ihm verschwunden, und nichts umgab ihn mehr als die weiße Fläche, die sich nach allen Seiten hin erstreckte. Aber er fühlte, wie das Bild, das er behutsam mit beiden Händen hielt, ihn in eine bestimmte Richtung zog.
Der Junge war entschlossen, dieser Kraft zu folgen, denn sie würde ihn an den richtigen Ort bringen, mochte der Weg nun lang sein oder kurz. Nichts mehr sollte ihn jetzt noch zurückhalten. Er wollte das Wasser des Lebens finden, und er war sicher, daß er es konnte.
Da hörte er plötzlich Lärm hoch in den Lüften. Es war wie fernes Geschrei und Gezwitscher aus vielen Kehlen. Als er zum Himmel hinaufschaute, sah er eine dunkle Wolke, die wie ein großer Vogelschwarm aussah. Erst als dieser Schwärm näher herangekommen war, erkannte er, worum es sich in Wirklichkeit handelte, und vor Schreck blieb er wie angewurzelt stehen.
Es waren die Clowns-Motten, die Schlamuffen!
»Barmherziger Himmel!« dachte der Junge ohne Namen, »hoffentlich haben sie mich nicht gesehen! Sie werden mit ihrem Geschrei das Bild zerstören!«
Aber sie hatten ihn gesehen!
Mit ungeheurem Gelächter und Gejohle stürzte sich der Schwärm auf den einsamen Wanderer nieder und landete um ihn herum im Schnee.
»Hurra!« krähten sie und rissen ihre bunten Münder auf, »da haben wir ihn ja endlich wiedergefunden, unseren großen Wohltäter!«
Und sie wälzten sich im Schnee, bewarfen sich mit Schneebällen, machten Purzelbäume und Kopfstände.
»Leise! Seid bitte leise!« flüsterte der Junge ohne Namen verzweifelt. Der ganze Chor schrie begeistert:
»Was hat er gesagt?« -»Er hat gesagt, wir sind zu leise!« -»Das hat uns noch niemand gesagt!«
»Was wollt ihr von mir?« fragte der Junge, »warum laßt ihr mich nicht in Ruhe?«