»Fuchur«, sagte Bastian, »wie wollt ihr das je zu Ende bringen, was ich euch da zurücklasse?«
Der weiße Drache zwinkerte mit einem seiner rubinroten Augenbälle und antwortete:
»Mit Glück, mein Junge! Mit Glück!«
Damit folgte er seinem Herrn und Freund.
Bastian blickte ihnen nach, wie sie durch das Tor hinausgingen, zurück nach Phantásien. Die beiden drehten sich noch einmal um und winkten ihm zu. Dann senkte sich der schwarze Schlangenkopf, bis er wieder auf dem Boden lag. Bastian konnte Atréju und Fuchur nicht mehr sehen.
Er war jetzt allein.
Er drehte sich nach dem anderen, dem weißen Schlangenkopf um und sah, daß dieser sich zur gleichen Zeit gehoben hatte und daß die Schlangenkörper auf dieselbe Art zu einem Tor gebogen waren, wie vorher auf der anderen Seite.
Rasch schöpfte er mit beiden Händen vom Wasser des Lebens und rannte auf dieses Tor zu. Dahinter war Dunkelheit.
Bastian warf sich in sie hinein - und stürzte ins Leere.
»Vater!« schrie er, »Vater! - Ich - bin - Bastian - Balthasar - Bux!«
»Vater! Vater! - Ich - bin - Bastian - Balthasar - Bux!«
Noch während er es schrie, fand er sich ohne Übergang auf dem Speicher des Schulhauses wieder, von wo aus er einst, vor langer Zeit, nach Phantásien gekommen war. Er erkannte den Ort nicht gleich und war wegen der wunderlichen Dinge, die er um sich erblickte, wegen der ausgestopften Tiere, des Gerippes und der Gemälde, sogar einen kurzen Augenblick unsicher, ob er sich nicht doch noch immer in Phantásien befand. Doch dann sah er seine Schulmappe und den verrosteten siebenarmigen Leuchter mit den erloschenen Kerzen, und nun wußte er, wo er war.
Wie lange mochte es her sein, daß er von hier aus seine große Reise durch die Unendliche Geschichte angetreten hatte? Wochen? Monate? Vielleicht Jahre? Er hatte einmal die Geschichte eines Mannes gelesen, der sich nur für eine Stunde in einer Zauberhöhle aufgehalten hatte, und als er zurückkehrte, waren hundert Jahre verstrichen, und von allen Menschen, die er gekannt hatte, lebte nur noch einer, der damals ein kleines Kind gewesen und jetzt uralt war.
Durch die Luke im Dach fiel graues Tageslicht herein, aber es war nicht auszumachen, ob es Vormittag oder Nachmittag war. Es herrschte bittere Kälte auf dem Speicher, genauso wie in der Nacht, als Bastian von hier fortgegangen war.
Er wickelte sich aus dem Haufen staubiger Militärdecken, unter dem er lag, zog seine Schuhe und seinen Mantel an und stellte überrascht fest, daß beide feucht waren wie an jenem Tag, als es so geregnet hatte.
Er hängte sich den Riemen über die Schulter und suchte nach dem Buch, das er damals gestohlen und mit dem alles angefangen hatte. Er war fest entschlossen, es dem unfreundlichen Herrn Koreander zurückzubringen. Mochte der ihn wegen des Diebstahls bestrafen oder anzeigen oder noch Schlimmeres tun, für einen, der solche Abenteuer hinter sich hatte wie Bastian, gab es nicht mehr leicht etwas, das ihm Angst machte. Aber das Buch war nicht da.
Bastian suchte und suchte, er wühlte die Decken um und schaute in jeden Winkel. Es half nichts. Die Unendliche Geschichte war verschwunden.
»Nun gut«, sagte sich Bastian schließlich, »dann muß ich ihm eben sagen, daß es weg ist. Er wird mir sicherlich nicht glauben. Ich kann es nicht ändern. Mag daraus werden, was will. Aber wer weiß, ob er sich überhaupt noch erinnert nach so langer Zeit? Vielleicht gibt es den Buchladen gar nicht mehr?«
Das würde sich bald herausstellen, denn zunächst mußte er ja nun einmal durch die Schule gehen. Wenn die Lehrer und Kinder, denen er begegnen würde, ihm fremd wären, dann würde er wissen, womit er zu rechnen hatte.
Aber als er nun die Speichertür aufschloß und in die Gänge des Schulhauses hinunterstieg, empfing ihn dort völlige Stille. Keine Menschenseele schien sich im Gebäude zu befinden. Und doch schlug die Uhr auf dem Schulturm gerade neun. Es war also Vormittag, und der Unterricht hätte längst begonnen haben müssen.
Bastian blickte in einige Klassenzimmer, aber überall herrschte die gleiche Leere. Als er an eines der Fenster trat und auf die Straße hinunterblickte, sah er dort einige Menschen gehen und Autos fahren. Die Welt war also wenigstens nicht ausgestorben.
Er lief die Treppen hinunter zum großen Eingangstor und versuchte es zu öffnen, aber es war abgeschlossen. Er wandte sich zu der Tür, hinter der die Hausmeisterwohnung lag, klingelte und klopfte, aber niemand rührte sich.
Bastian überlegte. Er konnte unmöglich warten, ob vielleicht doch irgendwann einmal jemand kommen würde. Er wollte jetzt zu seinem Vater. Auch wenn er das Wasser des Lebens verschüttet hatte.
Sollte er ein Fenster öffnen und so lange rufen, bis jemand ihn hörte und dafür sorgte, daß die Tür aufgeschlossen würde? Nein, das schien ihm irgendwie beschämend. Ihm fiel ein, daß er ja aus dem Fenster klettern konnte. Sie waren von innen zu öffnen. Aber die Fenster im Erdgeschoß waren alle vergittert. Dann kam ihm in den Sinn, daß er bei seinem Blick aus dem ersten Stockwerk auf die Straße hinunter, ein Baugerüst bemerkt hatte. Offenbar wurde an einer Außenmauer der Schule der Verputz erneuert.
Bastian stieg wieder in das erste Stockwerk hinauf und ging zu dem Fenster. Es ließ sich öffnen, und er stieg hinaus.
Das Gerüst bestand nur aus senkrechten Balken, zwischen denen in gewissen Abständen waagrechte Bretter lagen. Die Bretter schwangen unter Bastians Gewicht auf und ab. Einen Augenblick lang überfiel ihn ein Schwindelanfall, und Angst stieg in ihm auf, aber er zwang beides in sich nieder. Für einen, der Herr von Perelín gewesen war, gab es hier überhaupt kein Problem - auch wenn er nicht mehr über die fabelhaften Körperkräfte verfügte und das Gewicht seines dicken Körpers ihm doch ein wenig zu schaffen machte. Bedachtsam und ruhig suchte er Griff und Halt für Hand und Fuß und kletterte die senkrechten Balken abwärts. Einmal zog er sich einen Holzsplitter ein, aber solche Kleinigkeiten machten ihm nichts mehr aus. Etwas erhitzt und keuchend, aber wohlbehalten kam er unten auf der Straße an. Niemand hatte ihn beobachtet.
Bastian rannte nach Hause. Die Federmappe und die Bücher klapperten im Rhythmus seiner Schritte in der Schulmappe, er bekam Seitenstechen, aber er rannte weiter. Er wollte zu seinem Vater.
Als er endlich zu dem Haus kam, wo er wohnte, blieb er doch für einen Moment stehen und schaute zu dem Fenster hinauf, hinter dem Vaters Labor lag. Und jetzt plötzlich schnürte ihm Bangigkeit das Herz zusammen, weil ihm zum ersten Mal der Gedanke kam, daß der Vater nicht mehr da sein könnte.
Doch der Vater war da und mußte ihn wohl kommen gesehen haben, denn als Bastian jetzt die Treppen hinaufstürmte, kam er ihm entgegen gelaufen. Er breitete die Arme aus, und Bastian warf sich hinein. Der Vater hob ihn hoch und trug ihn in die Wohnung.
»Bastian, mein Junge«, sagte er immer wieder, »mein lieber, lieber kleiner Kerl, wo bist du nur gewesen? Was ist dir passiert?«
Erst als sie am Küchentisch saßen und der Junge heiße Milch trank und Frühstückssemmeln aß, die der Vater ihm fürsorglich dick mit Butter und Honig strich, bemerkte Bastian, wie blaß und mager das Gesicht des Vaters war. Seine Augen waren gerötet und sein Kinn unrasiert. Aber sonst sah er noch genauso aus wie damals, als Bastian fortgegangen war. Und er sagte es ihm.