Harte Krieger brachen in Tränen aus.
»Wehe uns, wir sind verloren!« rief einer.
Nach wenigen Augenblicken konnte ich mir genug zusammenreimen. Drei Regimenter waren zum nördlichen Rand des Deltas vorgestoßen. Dort hatte man sie schon erwartet und in Stücke gehauen. Der Fahnenträger des Siebzehnten hatte sich bis zu uns durchschlagen können. Es hatte zahllose Verwundete gegeben. Wie viele auf dem Schlachtfeld gefallen waren, erfuhr ich nicht. Im Vergleich zu den Verlusten bei dem Ausbruchsversuch im Süden hatten die nördlichen Regimenter schwerere Verluste davongetragen. Anscheinend hatten die Männer festen Boden, Gras und Felder gesehen und waren freudig darauf zugestürmt, und die Falle war erst eine Ehn später zugeschnappt, als das zweite Regiment aus dem Delta gekommen war.
»Wir sind hier gefangen!« rief ein Soldat. »Es gibt kein Entkommen!«
»Labienus, führe uns!«
»Wir gehen nicht weiter nach Westen! Das ist doch Wahnsinn!«
»Wir können nicht zurück!«
»Aber hierbleiben können wir auch nicht!«
Ich fragte mich, wie es die Männer des Siebzehnten und des ihm zugeteilten Dritten und Vierten geschafft hatten, sich bis zu uns durchzuschlagen. Anscheinend waren sie auf keine Gegenwehr der Rencebauern gestoßen. Natürlich war schon klar, warum sie zumindest ein paar Mann durchgelassen hatten: der Anblick auseinandergetriebener, besiegter Soldaten würde bei den anderen Regimentern seine Wirkung nicht verfehlen, aber soweit ich es mitbekam, war nicht einer von ihnen Partisanen begegnet.
Noch immer schrie alles durcheinander.
»Hauptmann, führ uns nach Osten!«
»Der Osten ist abgeriegelt. Das wissen wir doch!«
»Dann eben nach Norden! Nach Norden«
»Du Narr! Sieh dir doch die Kameraden des Siebzehnten an!«
»Führ uns nach Süden, Labienus!«
»Meuterei!« Das war die Stimme des Unteroffiziers.
Schwerter wurden gezogen.
Die Abwesenheit der Rencebauern war mir unbegreiflich. Warum stürzten sie sich jetzt nicht auf die verwirrte, rebellische, hilflose Vorhut, die völlig erschöpft im Sumpf umherirrte?
»Wir müssen nach Süden!«
»Nein, nicht nach Süden!«
»Labienus hat uns hierhergeführt« rief jemand voller Wut. »Es ist seine Schuld! Tötet ihn! Er ist ein cosischer Spion!«
»Deine Worte sind Verrat. Verteidige dich!«
Stahl traf klirrend auf Stahl.
»Aufhören!« Man trennte die beiden Männer gewaltsam voneinander.
»Labienus, was sollen wir nur tun?«
»Vorsicht!« schrie plötzlich jemand. Ein Summen erfüllte die Luft. Es war das Geräusch großer Flügel, die sich schnell näherten.
»Das ist doch bloß eine Zarlitfliege.«
Die Zarlitfliege ist groß, mißt etwa einen Meter in der Länge und verfügt über vier große, durchsichtige Flügel mit einer Spannweite von fast einem Meter. Sie hat große, paddelähnliche Füße, mit denen sie über die Wasseroberfläche huschen kann. Sie bietet ein prächtiges Erscheinungsbild und kann einem einen höllischen Schreck einjagen, wenn man auf sie stößt, aber für den Menschen sind sie harmlos. Einige der Arer fühlten sich in ihrer Nähe noch immer unbehaglich. Die Zarlitfliege erbeutet kleine Insekten, meistens im Flug.
»Das ist noch eine«, bemerkte ein anderer Mann.
Das war merkwürdig. Zwei von ihnen, so nahe zusammen?
»Sag was, Labienus!«
Eine weitere Fliege brummte heran.
»Was sind denn das für dunkle Wolken am Himmel? Ich habe noch nie solch dunkle Wolken gesehen.«
»Das muß ein Sturm sein.«
Plötzlich verspürte ich ein übles Gefühl in der Magengegend.
»Was ist das für ein Geräusch?«
Falls Labienus etwas hatte sagen wollen, wartete er noch.
Vermutlich hatten alle Soldaten die Blicke nach Westen gerichtet. Ich war in dieser Jahreszeit noch nie im Delta gewesen. Trotzdem wußte ich jetzt, warum die Rencebauern verschwunden waren.
»Hört euch das an!«
In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein derartiges Geräusch gehört, aber man hatte mir davon berichtet.
»Die Wolken bedecken den ganzen Horizont. Die sind ja riesig. Und so dunkel!«
»Die Geräusche kommen aus den Wolken«, sagte ein Soldat. »Da bin ich sicher.«
Jeden Sommer zu dieser Zeit ziehen sich die Bauern in ihre Hütten zurück, nehmen Wasser und Vorräte mit und verbarrikadieren sämtliche Öffnungen mit Renceschilf. Zwei oder drei Tage später kommen sie wieder heraus.
Plötzlich erfolgte ein schmerzerfüllter Aufschrei. »Das war eine Nadelfliege.«
»Vorsicht, da kommen noch mehr!«
Die meisten Stech- oder Nadelfliegen – wie sie in den Gegenden südlich des Vosk genannt werden – stammen aus dem Vosk-Delta und vergleichbaren Orten; sie legen ihre Eier an den Halmen der Rencepflanzen. Die Regelmäßigkeit ihrer Fortpflanzungs- und Brutzeit führt oftmals zur gleichzeitigen Schlupfzeit. Man vermutet, daß ein Zusammentreffen natürlicher Faktoren wie Temperatur und Luftfeuchtigkeit des Deltas dafür verantwortlich sind, nicht zu vergessen die hohe Zuverlässigkeit dieser Faktoren. Wie man sich vielleicht denken kann, wird die Schlupfzeit von den Bauern sorgfältig im Auge behalten. Sobald die Stechfliegen, die die Zeitspanne ihres ausgewachsenen Lebens als Einzelgänger verbringen, das Delta verlassen haben, verteilen sie sich über das ganzer Land. Von den Millionen Insekten, die jedes Jahr innerhalb von vier bis fünf Tagen im Delta ausschlüpfen, kehren nur wenige im Herbst dorthin zurück, um den Zyklus erneut zu beginnen.
Weitere Schmerzensschreie ertönten; ich hörte, wie die Männer nach den Insekten schlugen.
»Die Wolken kommen näher!«
Das ständig in seiner Stärke anschwellende Geräusch, das aus dem Westen kam, war nicht länger zu überhören. Es füllte allmählich das ganze Delta aus. Es wurde verursacht vom unvorstellbar schnellen Schlagen von Millionen und Abermillionen bis jetzt noch winziger Flügel.
»Das sind keine richtigen Wolken, das sind Nadelfliegen! Paßt auf!«
Wieder ertönten Schmerzensschreie. Ich nahm den Kopf zur Seite, obwohl ich die Haube trug. Ein kleiner Körper landete in Höhe meines Gesichts auf der Lederhaube.
Ich zuckte zurück, stieß einen leisen Schmerzenslaut aus, der von dem Knebel gedämpft wurde. Ich war an der Schulter gestochen worden. Ich tauchte ins Wasser ein, bis nur noch mein vermummter Kopf herausragte. Überall sprangen Männer ins Wasser. Das Summen war nun ohrenbetäubend.
»Meine Augen!« schrie ein Soldat. »Meine Augen!«
Augen zogen die Fliegen unwillkürlich an, wie alle feuchten, hellen Dinge.
Das Floß schaukelte, als die Männer heruntersprangen.
Der Stich der Stechfliege ist außerordentlich schmerzhaft, aber nicht gefährlich, solange man nicht übermäßig viele davonträgt. Mehrere Stiche können Übelkeit hervorrufen. Es sind auch schon Männer daran gestorben, aber in solchen Fällen mußte schon eine große Anzahl an Stichen zusammenkommen. Für gewöhnlich verursacht das Gift der Fliege eine schmerzhafte Schwellung. Ein paar Stiche im Gesicht können eine Person unkenntlich machen. Die Schwellungen bilden sich normalerweise nach ein paar Ahn wieder zurück.
Ich zog an dem Geschirr. Dem Gefühl nach zu urteilen war das Floß menschenleer.
»Sie verdunkeln die Sonne!«
Noch mehr Soldaten sprangen ins Wasser.
Die Luft war erfüllt von kläglichen Schreien, aufklatschenden Händen und wilden Flüchen.
Kleine Insektenkörper trommelten gegen meine Haube.
Ich zerrte das Floß nach rechts, mit schnellen, wilden Bewegungen. Dabei blieb ich so gut es ging unter Wasser, hob nur von Zeit zu Zeit den verhüllten Kopf. Falls jemand das Floß auffiel, hoffte ich nur, daß er glaubte, es würde aus eigener Kraft dahintreiben, im Griff einer Strömung. Immer wenn ich auftauchte, um Atem zu schöpfen, lauschte ich angestrengt, aber niemand brüllte mir hinterher, niemand befahl mir, sofort stehenzubleiben. Das Summen wurde nicht leiser. Ich traf auf eine Sandbank, fluchte und zog das Floß darüber. Das Wasser reichte mir hier nur bis zu den Knien, erst dahinter wurde es wieder tiefer. In diesem kurzen Augenblick wurde ich viermal gestochen. Darüber hinaus waren zahllose Insekten auf mir gelandet, ohne mich zu stechen. Ich stieß gegen einen Soldaten, aber er war sofort verschwunden. Ich konnte nicht einmal sagen, ob er wußte, mit wem er zusammengestoßen war. Als ich wieder zum Luftholen nach oben kam, prasselten Insekten gegen die Haube. Ein weiterer Stich traf meinen Nacken. Beim Tauchen wurden die meisten Fliegen abgespült. Möglicherweise hatten sich auch einige, die nicht weiterfliegen konnten, daran festgeklammert.