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Ich entfernte das Halteband des Knebels. Die Männer von Ar rechneten zweifellos damit, daß ich tiefer in den Sumpf floh. Ich hatte das auch durchaus vor. Aber da waren noch vorher ein paar Dinge zu erledigen; es galt, einen Schlüssel zu finden. Zweifellos war die Flucht aus dem Delta – von der ich keinen Augenblick lang zweifelte, daß sie mir gelänge – mit ein paar Vorräten einfacher zu bewerkstelligen. Sicherlich würden mir die guten Soldaten von Ar, die alle schließlich das Herz auf dem rechten Fleck trugen, das nicht verübeln. Außerdem war ich der Meinung, daß sie mir das schuldeten, zog man die ganzen Unannehmlichkeiten und die Arbeit in Betracht, für die ich nicht entschädigt worden war. Immerhin war ich ein freier Mann.

Ich glitt vom Floß ins Wasser, um den Fliegen weniger ausgeliefert zu sein. Ein Blick nach oben zeigte, daß noch immer Millionen von Fliegen durch die Luft summten, aber der Schwarm war deutlich kleiner geworden.

Ich würde auf die nächste Welle warten.

11

Ausgehöhlt kann der Rencehalm als Atemrohr dienen. Auf diese Weise kann man sich unter Wasser einigermaßen sicher und unbemerkt fortbewegen, vorausgesetzt, die Halmöffnung befindet sich in unmittelbarer Nähe der Wasseroberfläche und diejenigen, die sich in der Nähe aufhalten, sind nicht mit den Feinheiten des Sumpfläufertums vertraut und nicht wachsam und scharfsinnig genug, um mit einer solchen Möglichkeit zu rechnen. Natürlich müßte die Bewegung des Halmes eigentlich sofort für Mißtrauen sorgen, vor allem wenn seine Bewegungen gesteuert erscheinen. Rencebauern sind mit diesen Techniken vertraut, machen aber nur selten Gebrauch davon, außer bei Messer- oder Dreizackangriffen. Ein Eintauchen des großen Bogens, vor allem wenn es sich um eine längere Zeit handelt, in der er viel Wasser aufnehmen kann, mindert seine Spannkraft; das Leben der Sehne, für gewöhnlich mit Seide durchwirkter Hanf, wird ebenfalls verkürzt. Jeder auf diese Weise durchgeführte Angriff erfordert ein Untertauchen im Sumpf, was nicht ungefährlich ist. Rencebauern greifen daher normalerweise mit ihren Booten an und benutzen die allgegenwärtigen Schilfinseln als Deckung. Eine Angriffseinheit besteht aus zwei Mann; der eine bewegt das Boot mit einer Stange oder dem Paddel vorwärts, während der andere mit dem Bogen schießt.

Ich hob den Kopf ein Stück aus dem Wasser.

Viele der Soldaten hatten auf Sandbänken Zuflucht gesucht. Man hatte Lagerfeuer entzündet, in die man feuchtes Schilf warf, um mit dem entstehenden Rauch die Fliegen abzuwehren. Viele drängten sich zitternd um die Flammen. Es lagen viele Kranke am Boden. Vermutlich waren das Reaktionen auf das Gift der Stechfliegen. Die Männer hatten sich Decken übergeworfen; andere saßen mit gesenkten Köpfen da, die Tuniken übers Gesicht gezogen. Andere wiederum hatten sich Gesichter, Arme und Beine mit Schlamm und Asche eingerieben, ein kläglicher Schutz vor den Fliegen. Überall waren rote Augen zu sehen, es wurde gehustet. Ich hörte, wie sich ein Mann in den Sumpf übergab. Ich hörte Männer weinen und stöhnen. Einige der Gesichter waren unförmig zugeschwollen, verfärbt und mit pustelähnlichen Wucherungen bedeckt. Arme und Beine waren mit ähnlichen Schwellungen übersät. Ein paar Männer konnten nicht mehr aus den Augen blicken.

Ich entdeckte den Soldaten, von dem ich überzeugt war, daß er den Schlüssel zu meinen Handschellen verwahrte. Er lag zitternd auf dem Bauch, halb mit Renceschilf bedeckt. Anscheinend hatte er viele Stiche davongetragen. Der Schlüssel befand sich sehr wahrscheinlich in seiner Gürteltasche. Überall lagen Ausrüstungsgegenstände herum. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es schwer sein würde, sich einige davon anzueignen. Davon abgesehen waren selbst Schilde und Waffen im Sumpf weggeworfen worden. Man hätte dem Regiment allein aufgrund dieser Spur folgen können. Bei den anderen Einheiten sah es vermutlich nicht anders aus. Nicht daß ich vorgehabt hätte, seinen Weg zurückzuverfolgen.

Ein Soldat schrie schmerzerfüllt auf; er war gerade gestochen worden. Aber im Augenblick summten weniger Fliegen durch die Luft.

Vielleicht waren die Männer, die so elend hier auf den Sandbänken hockten, der Meinung, daß die Fliegenplage endgültig vorbei war.

Ich hatte jedoch schon vom Schilf aus gesehen, daß sich aus dem Westen neue Wolken näherten, die noch dichter und dunkler waren. Die erste Welle ist nie die schrecklichste. Das ist immer die mittlere. Die letzten sind dann kleiner. Manchmal verlassen die Sumpfbauern sogar schon während der letzten Wellen, die wie weit verstreute Wolken über ihren Köpfen hinwegsummen, ihre Hütten.

Nach dem ersten Blick auf diese neue Dunkelheit, die wie ein schwarzer, aufgehender Mond am Horizont über den Schilffeldern erschienen war, hatte ich das vorbereitete Atemrohr genommen und war zu dem Regiment zurückgekehrt. Dem ersten Eindruck nach zu urteilen war sich keiner auf der Sandbank der herannahenden neuen Fliegenschwärme bewußt.

Das konnte mir nur von Nutzen sein.

Sollte der neue Sturm sie wie ein Blitz treffen.

»Hört mal!« rief da ein Soldat entsetzt.

Mit Zufriedenheit beobachtete ich, wie die Männer aus Ar verzweifelt nach Schutz suchten; sie gruben sich in den Sand ein, zogen Wolldecken über sich, bedeckten sich mit Schilfbüscheln, wickelten sich Kleidungsstücke um Kopf und Augen, begruben den Kopf in den Armen, taten, was sie nur konnten, um sich für die unmittelbar bevorstehende Ankunft ihrer zahllosen kleinen Besucher vorzubereiten, der zeitweiligen Herren des Vosk-Deltas.

In diesem Augenblick hätte sich ein Larl unbemerkt zwischen den Soldaten bewegen können.

Ein Mann schrie auf, gestochen von einer Fliege, die kaum mehr als ein Bote der herannahenden Wolke sein konnte. Es ist wie ein Regenguß, dachte ich, zuerst nur ein paar Tropfen, dann sind es schon mehr, dann kommen Sturzbäche herunter, vielleicht sogar eine lange Zeit, bis der Spuk dann schließlich nachläßt, die letzten Tropfen fallen und – wenn man vielleicht schon alle Hoffnung aufgegeben hat – es sich wieder aufhellt. Hier fällt der Regen allerdings horizontal, und er ist trocken und schwarz, und einige der ›Tropfen‹ bleiben und krabbeln umher.

Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann war die Luft voller Bewegung. Diese Bewegungen waren flink und unvorhersehbar, beinahe verschwammen sie ineinander. Und doch bildeten sie keine erkennbare Masse. Es war, als würden diese kleinen, wütenden fliegenden Lebewesen durchsichtige Tunnel durchrasen, die sie voneinander trennten.

Soldaten schrien gepeinigt auf. Manche warfen sich bäuchlings zu Boden und bedeckten den Kopf mit den Händen.

Ich tauchte kurz unter, um Fliegen von meinem Gesicht zu waschen. Die meisten der Fliegen, die sich auf einem niederließen, stachen natürlich nicht. Wäre das der Fall gewesen, wären wir bei dem kumulativen Effekt solcher Gifte in wenigen Ehn alle tot gewesen.

Plötzlich war die Luft erfüllt von schnellen, hin und her flitzenden Körpern, die auf einen niederprasselten und dabei sogar gegeneinander prallten. Ich erhob mich aus dem Sumpf und rannte zusammengeduckt los. In weniger als einer Ehn befand ich mich hinter dem Soldaten, der mit Rence bedeckt reglos auf der Sandbank lag. Ich kniete mich auf seinen Körper, und noch bevor er überhaupt begriff, was da geschah, drückte ich ihm mit meinen aneinandergeketteten Händen den Kopf in den Sand. Jetzt konnte er nicht mehr atmen. Aber er konnte hören. Für einen kurzen Augenblick bäumte er sich auf, lag dann aber still. Ich glaube, mein Gewicht und mein Griff machten ihm sofort die Hoffnungslosigkeit seiner Lage begreiflich. Er konnte nicht atmen, wenn ich es ihm nicht erlaubte. Er wußte, daß er in meiner Gewalt war.

»Kein Laut«, flüsterte ich. »Oder ich breche dir das Genick.« Es gibt verschiedene Techniken, wie man das bewerkstelligen kann, es kommt auf die Körperkraft an. Da wäre zum Beispiel ein kräftiger Fausthieb oder ein Fußtritt direkt unterhalb der Schädelbasis, oder ein Schlag mit der Handkante oder der Außenseite des Fußes, der den Kopf zur Seite zwingt, was besonders wirksam ist, wenn sich der Körper in einer Position befindet, in der er sich nicht mit dem Schlag bewegen kann.