Ich hob seinen Kopf ein Stück, nicht so weit, daß sein Mund nicht mehr den Sand berührte, aber immerhin so weit, daß er etwas Luft durch die Nase bekam, vielleicht auch noch durch den Mundwinkel. Sein Gesicht war mit Sand bedeckt; vermutlich hatte er auch Sand in den Augen. Ich stieß seinen Kopf wieder nach unten.
»Du wirst zehn Ihn in dieser Position verharren«, ließ ich ihn wissen. »Hast du verstanden?« Der Kopf bewegte sich unmerklich. Dann nahm ich die Hände von ihm und zog ihm den Dolch aus dem Gürtel. Mit dem Dolch schnitt ich den Schwertgurt los und entwaffnete ihn. »Du darfst den Kopf heben«, flüsterte ich. »Ein kleines Stück.«
Er gehorchte und fühlte seinen Dolch an der Kehle.
»Du!« flüsterte er halb erstickt. Er hatte die Kettenglieder der Handschellen im Nacken gefühlt.
»Wie heißt du?« fragte ich ihn.
»Titus.«
»Also gut, Titus. Wo ist der Schlüssel für die Handschellen?« Ich ging davon aus, daß er sich in seiner Gürteltasche befand, hatte aber keine Lust, sie zu durchstöbern, falls er doch an anderer Stelle untergebracht war. Es konnte durchaus sein, daß er sich im Marschgepäck des Soldaten befand. Der Schlüssel war mit einer Schnur versehen, an der sich ein kleines Holzstück befand. So konnte man ihn um den Hals tragen oder ihn sich ums Handgelenk binden. Das Holz diente zur Sicherheit, für den Fall, daß der Schlüssel in den Sumpf fiel. Auf diese Weise war er nicht sofort verloren.
»Ich habe ihn nicht.«
»Keine Lügen«, sagte ich grob. Um ein Haar hätte ich ihm das Messer in den Hals gerammt. Ich hatte es nicht bis hierher geschafft, um jetzt enttäuscht zu werden.
»Ich habe ihn nicht!« stieß Titus hervor.
Einen kurzen Augenblick lang wurde ich mir der Fliegenschwärme bewußt. Ich mußte mit Fliegen bedeckt sein. Ich war bestimmt gestochen worden, aber meine Gefühle und meine Konzentration waren so stark, daß ich es nicht bemerkt hatte.
»Wer hat ihn dann? Wo ist er?«
»Töte mich nicht!«
»Wo ist der Schlüssel?«
»Plenius weiß das.«
»Dann werden wir ihm einen Besuch abstatten«, sagte ich. »Erhebe dich langsam auf die Knie.« Mit einer schnellen Bewegung schlang ich ihm die Kette um den Hals, damit er da blieb, wo ich wollte, und hielt ihm auch wieder die Klinge an den Hals. »Und jetzt schiebst du Hände und Unterarme unter den Gürtel deiner Tunika. Sehr gut.«
Nachdem er sich auf die Knie erhoben hatte, warf er einen Blick auf das Schwert, das in seiner Scheide dort am Boden lag, wo es hingefallen war, nachdem ich den Gürtel durchtrennt hatte.
»Und jetzt suchen wir deinen Freund Plenius.«
Wenige Augenblicke später waren wir bei einer Gestalt angelangt – er auf den Knien, ich hinter ihm –, die zusammengekrümmt unter einer Decke lag.
»Ruf ihn, aber leise.«
»Plenius, he, Plenius!«
Wütend zog Plenius die Decke ein Stück zurück. Dann warf er sie trotz der Fliegen ganz beiseite. Seine Hand flog zum Schwertgriff, aber mein Gesichtsausdruck und die Bewegung des Messers am Hals meines Gefangenen ließen ihn innehalten. Plenius’ Gesicht war eine einzige Schwellung. Ein Auge war völlig zu.
»Den Schlüssel für die Handschellen«, sagte ich.
Er stand auf, trat die Decke beiseite.
Überall waren Fliegen. Zeitweise konnte ich ihn nicht mal mehr deutlich sehen.
»Der Schlüssel.«
Das Summen der Insekten war ohrenbetäubend.
Ich beobachtete, wie seine Hand unwillkürlich nach seiner Tunika griff. Er hatte ihn also unter der Tunika, vermutlich am Hals. In seinem geöffneten Auge schimmerte ein eigentümlicher Glanz.
»Ich dachte mir, daß du zurückkommst«, sagte er.
»Sprich leise«, erwiderte ich und drückte fester mit dem Messer zu.
Er zog den Schlüssel an seinem Band unter der Tunika hervor. »Aus diesem Grund habe ich auch den Schlüssel behalten, damit du zu mir kommen mußtest, um ihn zu holen.«
»Titus hatte ihn davor, richtig?«
»Ja.«
Das freute mich, denn es bewies, daß ich mich nicht geirrt hatte.
»Wenn du ihn haben willst, mußt du ihn mir abnehmen«, sagte Plenius.
»Ich hätte wissen müssen, daß du ihn wieder an dich nimmst«, meinte ich, »daß du dir diese Verantwortung auflädst, das Risiko eingehst, daß ich deswegen zurückkehren könnte.«
»Ich wollte, daß du deswegen zurückkommst«, sagte er.
»Dann hat sich dein Wunsch ja erfüllt.«
Plenius grinste. »Du erwartest doch sicher nicht, daß ich ihn dir freiwillig gebe, oder?«
»O ja, genau das erwarte ich.« Ich hielt das Messer dichter an den Hals meines Gefangenen. Titus rückte näher zu mir, damit er sich nicht selbst den Hals aufschnitt.
»Gib ihm den Schlüssel«, flüsterte er. »Gib ihm ihn!«
»Niemals!«
»Ich finde, es ist ein guter Handel«, meinte ich. »Ein Stück Eisen, an einem Band, im Austausch für deinen Freund.«
»Niemals!« wiederholte Plenius.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wie du willst!«
»Nein!« Mein ehemaliger Wärter streckte die Hände aus. »Ich gebe dir den Schlüssel!«
»Leg ihn zwischen uns auf den Sand.«
»Laß Titus los.«
»Erst den Schlüssel.«
»Vielleicht tötest du ihn ja, sobald du den Schlüssel hast.«
»Vielleicht greifst du mich ja an, sobald er frei ist«, hielt ich dagegen.
»Ich brauche bloß zu rufen, und ein Dutzend Krieger kommen angelaufen.«
»Aber Titus wird nicht unter ihnen sein«, erwiderte ich.
»Plenius, gib ihm den Schlüssel«, flüsterte Titus mit weit zurückgelegtem Kopf.
»Zuerst läßt du ihn frei«, beharrte Plenius.
»Also gut.« Ich nahm die aneinandergeketteten Hände von Titus’ Hals, und er bewegte sich halb laufend und halb kriechend von mir fort, und zwar so schnell, daß der Sand aufspritzte. Erst nach einem halben Dutzend Schritten blieb er stehen und zog die Arme aus dem Gürtel. »Gib ihm den Schlüssel, Plenius.«
Mein Wärter grinste. Er wischte sich Fliegen vom Gesicht, dann zog er den Schlüssel an seinem Band über den Kopf. »Fang!« rief er plötzlich und warf ihn weit an mir vorbei. Ein schneller Blick über die Schulter ließ mich sehen, wie er ins Wasser fiel, während gleichzeitig Stahl aus einer goreanischen Schwertscheide glitt.
»Plenius, nein!« rief jemand.
Ich fuhr herum, riß die Hände in die Höhe und fing die herabsausende Klinge mit der Kette auf. Funken stoben durch die Luft. Dann wurde die Klinge zurückgezogen, noch bevor ich Gelegenheit gehabt hatte, die Kette darumzuwinden oder sie zu packen. Ich hätte mit dem Messer zustechen können, aber Plenius befand sich außerhalb meiner Reichweite.
»Was ist mit deiner Ehre!« rief ich wütend.
»Einem Spion schuldet man keine Ehre«, erwiderte er. »Genausowenig wie einem Sleen aus Cos. Zu den Waffen, Männer!«
Soldaten sprangen auf. Zweifellos hatten sie Titus’ Schrei und das Klirren des zuschlagenden Schwertes gehört. Ich wich in Richtung Wasser zurück. Soldaten eilten umher, aber die Fliegenschwärme behinderten sie. Plenius wischte sich mit dem Unterarm Fliegen vom Gesicht, mit dem Arm, mit dem er das Schwert hielt. Selbst auf der Klinge saßen Fliegen. Plenius kam auf mich zu. Ich sah, wie Titus ihn zurückhalten wollte, aber da er größer und stärker war, stieß er ihn einfach beiseite. »Der Spion ist unter uns!« rief er. »Tötet ihn!«
Ich hatte das Wasser erreicht. Plenius watete hinter mir her. Zweimal wehrte ich die Klinge mit dem Messer ab. Plötzlich wandte sich Plenius ab und watete in den Sumpf hinein. Er wollte den Schlüssel holen. Ich folgte ihm. Er drehte sich um und hielt mich mit dem Schwert in Schach. Ich erblickte das Holzstück zwischen Hunderten von Insekten, die auf der Wasseroberfläche trieben. Ich wollte Plenius umgehen, auf seine linke Seite zu kommen, die Seite, an der er durch das zugeschwollene Auge behindert wurde. In meinem Herzen haßte ich ihn. Aber es gelang mir nicht, ihn zu überrumpeln. Er ließ das Schwert durch die Luft sausen. Ich rutschte aus, fiel auf ein Knie. Soldaten näherten sich uns, wie das aufspritzende Wasser verriet. Plenius wandte sich wieder mir zu.