»Zweifellos«, meinte Plenius. »Aber ich bin mir einfach nicht sicher, was sie betrifft.«
»Sprich.«
Einige der Soldaten hatten sich um uns versammelt und hörten zu.
»Es ist nicht nur auffallend, daß sie für ein Rencemädchen außergewöhnlich schön ist, sondern viele andere kleine Dinge sind ungewöhnlich – wie sie geht, wie sie sich gibt.«
Ich schwieg.
»Wir haben sie oft ohne Fesseln gehen lassen, und doch hat sie keinen Versuch unternommen, sich ins Schilf zu schlagen.«
»Ich verstehe.«
»Wir halten sie für kein Rencemädchen, wir glauben, daß sie Lady Ina aus Ar ist!«
Ina schrak zurück; sie zitterte am ganzen Leib.
Diese Reaktion kam plötzlich, unwillkürlich und fast wie ein Reflex. Er war den Männern bestimmt nicht entgangen. Ich befürchtete sofort, daß sie sich verraten hatte. Außerdem befürchtete ich, sie werde einen Fluchtversuch unternehmen. Glücklicherweise war sie klug genug, es nicht zu versuchen. Die Männer hätten sie nach wenigen Schritten erwischt.
»Es hat den Anschein, als hätte sie von der Lady Ina gehört«, bemerkte Plenius.
»Das ist schon möglich«, sagte ich, »und vielleicht hat sie Angst, mit ihr verwechselt zu werden.« In aller Ruhe kaute ich das Stück Fisch zu Ende und schluckte es. Das verschaffte Ina die nötige Zeit, sich wieder zu beherrschen.
»Seht sie euch an«, sagte ich dann.
Die Männer betrachteten Ina, die den Kopf senkte.
»Ist sie nicht hübsch?«
»Ja«, sagte Titus.
»Und ist sie nicht heiß, wenn man bedenkt, daß sie gar keine Sklavin und für derlei Zwecke nicht ausgebildet ist?«
»Das ist sie.«
»Und was ist Lady Ina?« fragte ich.
»Ein hochmütiges, anmaßendes Sleen-Weibchen«, sagte Plenius.
»Also ist es doch wohl ziemlich unwahrscheinlich, daß es sich bei dieser hübschen, willigen und gut ausgebildeten Schlampe und Lady Ina um ein- und dieselbe Person handelt.«
Die Soldaten wechselten vielsagende Blicke.
»Es erscheint doch ziemlich unwahrscheinlich, nicht wahr?«
»Ja, schon«, sagte Titus, »aber…«
»Wollen wir doch sehen, ob sie sich wie die Lady Ina benimmt«, schlug ich vor. Ich schnippte mit den Fingern und zeigte auf die Männer. Sofort warf sich Ina auf die Knie und rutschte demütig und mit einem Eifer, der einer Sklavin gut zu Gesicht gestanden hätte, zu den Soldaten hin und fing an, sie zu liebkosen. Ich sah zu, wie sie sie hielt und streichelte, sie küßte und leckte, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, für sie begehrenswert zu sein, in der Hoffnung, sie zu erfreuen. Dann blieb sie furchtsam auf dem Bauch liegen.
»Soll das die Lady Ina sein?«
Sie hockte sich auf die Knie, das Gesicht weiter im Sand.
Die Männer lachten.
»Wer weiß«, sagte Plenius.
»Auf jeden Fall gehört sie mir«, sagte ich.
Plenius grinste.
»Vielleicht willst du sie ja retten«, meinte ich.
»Für den Speer?« fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast mich aus dem Treibsand gezogen«, sagte er.
»Wärst du nicht gewesen«, sagte der Soldat, der die Haifischzähne hatte haben wollen, »hätte ich vielleicht eine Hand oder einen Arm verloren.«
»Ohne dich wären wir irgendwo im Delta verschollen, vielleicht sogar tot«, sagte Titus.
Plenius wandte sich an seine Kameraden. »Ich glaube nicht, daß sie Lady Ina ist«, verkündete er.
»Nein«, sagte der Soldat mit dem Messer.
»Hauptmann?« fragte Titus.
»Nein«, lächelte Labienus. »Das ist nicht die Lady Ina.«
»Du bist sicher, Ina«, sagte ich der knienden Gefangenen.
Erleichtert schluchzte sie los, ihre Tränen benetzten den Sand.
»Du solltest ihr erlauben zu sprechen«, sagte Plenius.
»Hauptmann?« fragte ich.
»Auf jeden Fall«, sagte Labienus.
»Selbst wenn sie zufällig mit dem Akzent einer Lady von Ar sprechen sollte?« fragte ich.
»Aber sicher.«
»Das wäre großartig«, sagte Titus. »Wie oft habe ich mir schon gewünscht, eine jener hochwohlgeborenen Damen zu meinen Füßen liegen zu sehen, als eine echte Frau.«
Ich wandte mich wieder Ina zu. »Du darfst sprechen.«
»Danke, mein Herr«, flüsterte sie.
»Ich glaube, aus ihr könnte man eine gute Sklavin machen«, meinte Plenius grinsend. Dann zuckte er zusammen, und ich glaube, einige der anderen auch, denn plötzlich ertönte ein ziehendes, reißendes Geräusch. Wir blickten uns um und sahen, daß Labienus ein großes Stück Rinde von einem kräftigen, fast schon stammdicken Ast abriß. Die Fingerkuppen hatten in dem abgeschälten Holz sogar tiefe Abdrücke hinterlassen. Er blickte wieder auf den Sumpf hinaus und tauchte die Hände in das Salzwasser.
Ich bot Plenius ein Stück Fisch an, er nahm es, und wir aßen gemeinsam.
16
Ich blickte auf und musterte das von Bäumen durchsetzte Unterholz hinter Titus.
Dort gab es etwas Bemerkenswertes zu sehen.
Plenius stand neben mir. Wir befanden uns im Lager. Im sumpfigen Delta sind Bäume eher eine Seltenheit, aber jetzt, da wir uns dem südlichen Rand näherten, kamen sie öfter vor.
Vor elf Tagen war die Wahrheit über die Gefangene Ina aufgedeckt worden. Vor neun Tagen hatten wir die Sandinsel überquert, über die die Rencebauern die Tharlarionherde getrieben und dann einen Pfeilregen hatten folgen lassen. Die meisten der Pfeile waren verschwunden; vermutlich hatten die Schützen sie später wieder eingesammelt. Wie bereits erwähnt sind die Pfeile aus Temholz kostbar, da es diese Art Holz im Delta nicht gibt.
Vor vier Tagen waren wir weit genug nach Osten gereist, um hoffen zu können, daß sich die cosischen Patrouillen nun hinter uns befänden, und schlugen einen Bogen nach Süden. Das würde uns in eine Gegend bringen, die weit genug sowohl von Brundisium als auch von Ven entfernt lag, eine Gegend, die die Cosianer – so hoffte ich – nicht länger für überwachenswert hielten. Sie würden vermutlich von der Annahme ausgehen, daß Flüchtlinge von der Stelle, an der ihr Regiment aufgehalten worden war, geradewegs nach Norden oder Süden fliehen würden, in dem Bemühen, den Gefahren des Deltas so schnell wie möglich zu entkommen. Ihnen würde hoffentlich nicht der Gedanke kommen, daß die Flüchtlinge eine Zeitlang auf ihrer früheren glücklosen Route zurückgingen, die ohnehin höchstwahrscheinlich von den Rencebauern blockiert und für sie so unglaublich verlustreich gewesen war. Und genau diese Route, die die Vorhut eingeschlagen hatte, war diejenige, die ich ausgesucht hatte.
Allerdings hatten wir sie mittlerweile verlassen. Ich vermutete, daß wir noch vier oder fünf Tage vom Deltarand entfernt waren. Natürlich würden wir nicht weiter nach Osten reisen, denn das würde uns in die von Turmus und Ven beherrschten Gebiete bringen, beides Städte, die Cos’ Politik zugetan waren.
Ich sagte: »Plenius?«
Er blickte auf.
»Sieh doch einmal in Titus’ Richtung ins Unterholz, in eine Entfernung von etwa dreißig Meter, wo die beiden Bäume nahe zusammenstehen.«
»Und?«
»Das reicht schon.«
»Ich verstehe nicht.«
»Was hast du gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nichts.«
»Was du gesehen hast, will ich wissen.«
»Nur Gebüsch«, sagte er. »Gras, Renceschilf, zwei Bäume.«
»Welche Art von Gebüsch?«
»Etwas Festal, Tes, ein bißchen Tor.«
»Bist du sicher, daß es ein Torbusch ist?«
Er vergewisserte sich. »Ja.«
»Ich halte es auch für einen Torbusch.« Man kennt den Strauch unter mehreren Namen; einer davon ist Torstrauch, was man mit heller Strauch oder Lichtstrauch übersetzen könnte, was auf der verschwenderischen Blütenpracht beruht, die weiß oder gelb sein kann. In voller Blüte ist es ein prächtiger Strauch. Jetzt blühte er nicht, schließlich war es nicht Herbst.
Plenius blickte mich an. »Und?«
»Fällt dir daran nichts Ungewöhnliches auf?«