»Aber was war mit dem Tunnel?«
»Was war mit Dietrich und seinen Männern?«
»Myron und seine Soldaten warteten die ganze Nacht, den nächsten Morgen und den ganzen folgenden Tag lang, aber der Tunnel öffnete sich nicht.«
»Warum nicht?« fragte der Söldner.
»Aus einem einleuchtenden Grund«, sagte der Schriftgelehrte. »Es gab keinen Tunnel.«
Die Männer blickten einander an.
»Myron, der fest von seiner Existenz überzeugt war, entschied sich, ihn selbst zu öffnen; seine Ingenieure holten Bergleute und Sappeure. Sie gruben und stocherten zwei Tage lang herum, fanden aber natürlich nichts. In der Zwischenzeit stiegen aus Torcodino die Rauchwolken auf.«
»Zweifellos hat man diesen Mincon, diesen Informanten, in siedendes Öl getaucht.«
»Er war verschwunden«, sagte der Schriftgelehrte.
»Natürlich.«
»Myron ließ Beobachter an dem angeblichen Standort des Tunnels zurück und kehrte wütend in sein Hauptquartier zurück. Dann schickte er Späher aus, die Torcodinos Verteidigungsbereitschaft prüfen sollten. Ohne auf die geringste Gegenwehr zu stoßen, erklommen kleine Gruppen die Mauern. Später begab sich eine größere Streitmacht in die Stadt und öffnete die Tore. Myron trat ein und fand nur Leere vor. Torcodino war verlassen.«
»Und Dietrich und seine Männer?«
»Fort.«
»Unmöglich«, sagte ein Zuhörer.
»Unter Myrons Männern herrschte große Furcht«, sagte der Schriftgelehrte.
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte ein Söldner unbehaglich.
»Einige fragten sich, ob der Feind nicht schon seit Monaten fort sei, andere wiederum, ob er jemals dagewesen sei. Es hieß, sie hätten geheimnisvolle Tränke zu sich genommen, die unsichtbar machten, oder die Priesterkönige hätten sie fortgezaubert.«
»Aber jemand muß doch in der Nacht, als die Tarns aufstiegen, die Feuer entzündet haben«, sagte der Söldner. »Die Nacht, als Myron vergeblich im Norden wartete.«
»Natürlich«, stimmte der Schriftgelehrte zu. »Tage später folgten zwei Soldaten, die aus Langeweile mit Knüppeln Jagd auf Urts machten, einem großen Urt in einen Keller, in dem es scheinbar spurlos verschwand. Sie entdeckten ein Loch, untersuchten es und fanden heraus, daß es sich um einen verborgenen Zugang zu einem Tunnel handelte. Er war von innen eingestürzt. Der Tunnel führte nicht in den Norden Torcodinos, sondern in den Süden. Myron schickte Soldaten hinein, und er führte viele Pasang nach Süden, bis sie schließlich das Ende fanden, das ebenfalls eingestürzt und getarnt war, diesmal natürlich von außen. Man grub den Ausgang frei und entdeckte, daß er sich in der Nähe der Aquädukte befand, die einst aus dem Norden Wasser vom Issus nach Torcodino gebracht hatten.«
»Durch diese Aquädukte hat sich Dietrich doch überhaupt erst Zugang zu der Stadt verschafft«, sagte der Söldner.
»Über den Köpfen der Cosianer!«
»Aber Dietrich hatte ihr nördliches Ende doch selbst zerstört, um andere daran zu hindern, sich auf die gleiche Weise Zugang zu der Stadt zu verschaffen.«
»Und doch hat er sie später wieder benutzt!« staunte ein Mann.
»Ja«, sagte der Schriftgelehrte. »Mit seinen Männern und allen Sklaven ist er durch die Aquädukte gewatet und wie unsichtbar auf den Issus vorgerückt. Wie die Untersuchung ergab, hat er seinen Männern dort anscheinend den Befehl gegeben, sich in alle Winde zu zerstreuen. Es wäre bestimmt nicht leicht gewesen, fünftausend Mann vor den Cosianern zu verbergen.«
»Sie hätten sich ja irgendwo wieder sammeln können.«
»Wenn es sicher gewesen wäre.«
»Dieses Unternehmen war gut geplant«, erklärte der Schrift gelehrte. »So wurden vor langer Zeit Vorbereitungen getroffen, daß am Issus Ausrüstung, Vorräte und Tharlarion bereitstanden.«
»Ist es sicher, daß Dietrich seine Sklaven aus Torcodino mitgenommen hat?«
»Ja. Neben den Fußabdrücken der Männer entdeckte man im Tunnel die zahllosen Abdrücke nackter kleiner Füße.«
»Ich verstehe«, sagte der Fragesteller.
»Die Abdrücke waren allerdings ziemlich tief«, sagte der Schriftgelehrte. »Was sagt euch das?«
»Sie trugen Lasten.«
»Ja, die Beute aus Torcodino.«
»Die meisten von ihnen werden selbst Teil der Beute gewesen sein.«
»Wo sind Dietrich und seine Männer jetzt?«
»In alle Winde zerstreut«, sagte der Schriftgelehrte.
»Sie könnten überall sein«, meinte der Söldner.
»Sogar in Brundisium«, vermutete der Kaufmann.
»Nein, vermutlich ist er mittlerweile schon längst wieder in Tarnburg.«
»Ja, genau.«
»Wurde Myron in Schimpf und Schande nach Telnus zurückbeordert?« fragte jemand.
»Er ist der Vetter von Lurius von Jad!«
»Sonst wäre er in kochendem Öl gelandet.«
»Das ist wahr.«
»Zweifellos erführe er gar zu gern den Aufenthaltsort von Dietrich und seinen Männern.«
»Das glaube ich auch.«
»Paga!« rief der Söldner.
»Paga!« rief der Kaufmann.
Mädchen eilten herbei, um ihre Herren zu bedienen.
Ich löste mich von der Gruppe und begab mich zu der Tür, die zu dem privaten Eßraum führte. Ich klopfte leise.
Die Tür öffnete sich zuerst nur einen Spaltbreit, aber dann schwang sie ganz auf, als man mich einließ.
»Willkommen, Tarl«, sagte Mincon, mein Freund von der Straße des Genesian und aus Torcodino. »Wir haben dich bereits erwartet.«
22
Marcus fragte: »Siehst du, welcher Kampf in der Gasse stattgefunden hat?«
»Was tust du denn hier?« Ich kam gerade mit Ina aus der Hintertür der Paga-Taverne Die Juwelenverzierte Peitsche. »Einen Augenblick!«
Marcus trat in dem grauen Licht zur Seite.
Ich befahl Ina, sich hinzuknien und an die Häuserwand anzulehnen. Dort ließ ich sie zurück und nahm Marcus beiseite, um mit ihm zu sprechen.
»Ich bin dir natürlich gefolgt«, sagte er, »um dir zu helfen, da du ja offensichtlich hofftest, die Männer, die die Frau verfolgen, in eine Schwertfalle locken zu können.«
»Mein Freund, ich hatte eigentlich gehofft, dich aus der Sache herauszuhalten.«
»Mich daran teilhaben zu lassen, wäre ein Beweis gewesen, daß ich tatsächlich dein Freund bin«, erwiderte er gereizt.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen.«
»Du hast mich über den Vosk gebracht«, sagte er. »Du hast mich bei meinem Spionageauftrag begleitet. Du hast dein Leben riskiert, indem du südlich vom Heerlager der Cosianer auf mich gewartet hast. Allein meinetwegen wurdest du von Saphronicus ergriffen und ins Delta verschleppt. Und doch wolltest du mir nicht erlauben, dir bei deinem Privatkrieg zu helfen, als du in ernster Gefahr schwebtest.«
»Sei mir nicht böse, mein Freund«, sagte ich. »Ich wollte weder deine Ehre noch deine Vertrauenswürdigkeit in Frage stellen. Falls die Ehre eines Mannes befleckt wurde, dann mit Sicherheit meine Ehre und nicht die deine.«
»Was hattest du eigentlich vor?« fragte er.