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Und da spürt Landsman es. Eine Hand auf seiner, zwei Grad wärmer als normal. Ein Beschleunigen, ein Flattern und Schlagen, wie eine Flagge in seinem Kopf. Vorher und nachher. Die Berührung von Mendel Shpilman, feucht, elektrisch, die einen sonderbaren Segen auf Landsman überträgt. Und dann nichts weiter als die kühle Luft in Bina Gelbfishs Kinderzimmer. Die blühende Vagina von O’Keeffe an der Wand. Der Stoffhund Shnapish im Regal neben Binas Armbanduhr und ihren Zigaretten. Und Bina, die sich im Bett aufsetzt, auf einen Ellenbogen stützt und ihn mit demselben Blick beobachtet, mit dem sie diese Kinder auf die unglückliche Pinguin-Piñata einschlagen sah.

»Du machst das immer noch mit dem Summen«, sagt sie. »Wenn du nachdenkst. Wie Oscar Peterson, nur ohne Klavier.«

»Scheiße«, sagt Landsman.

»Was ist, Meyer?«

»Bina!« Das ist Guryeh Gelbfish, das alte pfeifende Murmeltier, auf der anderen Seite des Korridors. Unvermittelt fährt Landsman ein uralter Schreck in die Glieder. »Wer ist da bei dir?«

»Niemand, Pa, geh schlafen!« Dann sagt sie wieder in leisem Flüstern: »Meyer, was ist?«

Landsman setzt sich auf die Bettkante. Vorher, nachher. Die Erregung der Erkenntnis; dann die bodenlose Reue der Erkenntnis.

»Ich weiß jetzt, mit was für einer Waffe Mendel Shpilman erschossen wurde«, sagt er.

»Gut«, sagt Bina.

»Das war keine Schachpartie«, sagt Landsman nach einer Weile. »Da auf dem Brett in Shpilmans Zimmer. Es war ein Problem. Jetzt ist es mir sonnenklar, ich hätte es sofort sehen müssen, die Aufstellung war so abstrus. Shpilman hatte an dem Abend Besuch, und er hat seinem Gast ein Problem präsentiert. Ein kompliziertes.« Landsman stellt die Figuren des Taschenschachspiels auf, ergreift sie selbstsicher, mit ruhiger Hand. »Weiß ist kurz davor, den Bauern umzuwandeln, hier. Weiß will ihn in einen Springer verwandeln. Das nennt sich Unterverwandlung, weil man ihn eigentlich zu einer Dame verwandeln würde. Mit einem Springer glaubt Weiß, drei verschiedene Möglichkeiten zum Matt zu haben. Aber Weiß irrt sich, weil Schwarz — das war Mendel — dadurch die Möglichkeit bekommt, das Spiel in die Länge zu ziehen. Wenn du Weiß bist, musst du ignorieren, was offensichtlich ist. Nur einen nichtssagenden kleinen Zug mit dem Läufer hier auf C2 machen. Zuerst merkst du es nicht mal. Aber wenn du das gemacht hast, führt jeder Zug von Schwarz direkt zum Matt. Sobald Schwarz sich bewegt, erledigt es sich selbst. Es gibt keinen guten Zug mehr für Schwarz.«

»Keinen guten Zug«, sagt Bina.

»Das nennt man Zugzwang«, sagt Landsman. »Es bedeutet, dass es für Schwarz jetzt am besten wäre, einfach auszusetzen.«

»Aber aussetzen darf man beim Schach nicht, oder? Man muss etwas machen, nicht?«

»Ja«, sagt Landsman. »Selbst wenn man weiß, dass es zum eigenen Schachmatt führt.«

Landsman merkt, dass seine Erklärung langsam bei ihr ankommt, nicht als Beweis oder Beleg oder Darlegung eines Schachproblems, sondern als Teil der Geschichte eines Verbrechens. Ein Verbrechen, das gegen einen Mann verübt wurde, der feststellen musste, dass er keinen guten Zug mehr hatte.

»Wie hast du das gemacht?«, fragt sie und kann ein leichtes Staunen über den Beweis seiner geistigen Fitness nicht unterdrücken. »Wie bist du auf diese Lösung gekommen?«

»Ich habe sie gesehen«, sagt Landsman. »Aber zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, was ich vor mir hatte. Es war ein Nachherbild — eigentlich das falsche Bild — zu dem Vorherbild in Shpilmans Zimmer. Ein Brett, auf dem Weiß drei Läufer hat. Nur gibt es kein Schachspiel mit drei weißen Läufern. Deshalb muss man manchmal etwas anderes nehmen, das die nicht vorhandene Figur ersetzt.«

»Zum Beispiel einen Penny? Oder eine Patrone?«

»Jeder kleine Gegenstand, den ein Mann in die Tasche stecken könnte«, sagt Landsman. »Zum Beispiel einen Inhalierstift von Wick.«

46.

»Du hast es im Schach nie weit gebracht, Meyerle, weil es dich nicht genug stört zu verlieren.«

Hertz Shemets liegt, dem Krankenhaus mit einer hässlichen Fleischwunde entsprungen und umgeben von einem Hospitalgeruch aus Zwiebelbrühe und Wintergrünseife, auf der Wohnzimmercouch seines Sohnes. Seine dünnen Unterschenkel staken wie zwei ungekochte Nudeln aus seinem Pyjama. Ester-Malke hat ein Abo auf Berkos großen Ledersessel, Bina und Landsman hocken auf den billigen Plätzen — dem Klappstuhl und der Lederottomane, die zum Sessel gehört. Ester-Malke sitzt schläfrig und unkonzentriert in ihrem Bademantel da. Ihre linke Hand spielt mit etwas in der Tasche. Landsman vermutet, es ist der Schwangerschaftstest von letzter Woche. Binas Hemd hängt aus der Hose, ihr Haar ist durcheinander, es sieht ein wenig aus wie ein Gebüsch, wie eine Art Zierhecke. Landsmans Gesicht im Wandspiegel ist ein Impasto aus Schatten und Schorf. Nur Berko Shemets, der auf dem Couchtisch hockt, macht zu dieser frühen Morgenstunde in seinem säuberlich hochgekrempelten und zerknitterten nashorngrauen Schlafanzug, über dessen Tasche seine Initialen in mausgrauem Crewelgarn gestickt sind, einen wachsamen Eindruck. Das Haar gekämmt, die Wangen für alle Zeiten unvertraut mit Haaren oder Klingen.

»Eigentlich verlier ich lieber«, sagt Landsman. »Um ehrlich zu sein. Wenn ich anfange zu gewinnen, werde ich misstrauisch.«

»Ich hasse es. Am schlimmsten war es für mich, gegen deinen Vater zu verlieren.« Onkel Hertz’ Stimme ist ein bitteres Krächzen, die Stimme seiner eigenen Großtante, die aus dem Grab oder aus der Weichsel nach ihm ruft. Er ist durstig, müde, reumütig und hat Schmerzen, hat jede Medizin abgelehnt, die stärker ist als Aspirin. In seinem Kopf muss es sirren, als hätte man die Motorhaube eines Autos zugeschlagen. »Aber gegen Alter Litvak zu verlieren, das war fast genauso schlimm.«

Die Augenlider von Onkel Hertz flattern, dann senken sie sich über seine Pupillen. Bina klatscht in die Hände, einmal, zweimal, und die Augen springen wieder auf.

»Erzähl, Hertz!«, sagt Bina. »Bevor du müde wirst oder ins Koma fällst oder so. Du hast Shpilman gekannt.«

»Ja«, sagt Hertz. Seine geprellten Augenlider glänzen geädert wie purpurner Quartz oder Schmetterlingsflügel. »Ich kannte ihn.«

»Wo hast du ihn kennengelernt? Im Einstein?«

Er will nicken, doch dann neigt er den Kopf zur Seite, überlegt es sich anders.

»Ich habe ihn schon als kleines Kind gekannt. Aber ich habe ihn nicht wiedererkannt. Als ich ihn wiedersah. Er hatte sich zu stark verändert. Als Kind war er klein und dick. Als Mann nicht mehr. Dünn. Ein Junkie. Er kam im Einstein vorbei, spielte um Drogengeld. Da habe ich ihn hin und wieder gesehen. Frank. Er war kein 08/15-Patzer. Hin und wieder, keine Ahnung, verlor ich fünf oder zehn Dollar gegen ihn.«

»Hast du das auch gehasst?«, fragt Ester-Malke, und obwohl sie überhaupt nichts von Shpilman weiß, scheint sie die Antwort zu ahnen oder zu raten.

»Nein«, sagt ihr Schwiegervater. »Seltsamerweise machte mir das nichts aus.«

»Du mochtest ihn.«

»Ich mag niemanden, Ester-Malke.«

Hertz schiebt die Zunge vor, fährt sich über die Lippen.