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Berko erhebt sich vom Stuhl und nimmt einen Plastikbecher vom Couchtisch. Er hält ihn seinem Vater an die Lippen, die Eiswürfel im Becher klirren. Berko hilft Hertz, den Becher zur Hälfte zu leeren, ohne etwas zu verschütten. Hertz dankt ihm nicht. Lange liegt er einfach da. Man kann das Wasser in ihm plätschern hören.

»Letzten Donnerstag«, sagt Bina. Sie schnippt mit den Fingern. »Los! Du bist in sein Zimmer gegangen. Im Zamenhof.«

»Ich ging zu seinem Zimmer. Er hatte mich eingeladen. Er hatte mich gebeten, Melekh Gaystiks Waffe mitzubringen. Er wollte sie sehen. Ich weiß nicht, woher er wusste, dass ich sie habe, ich hab’s ihm nicht gesagt. Er schien eine Menge über mich zu wissen, das ich ihm nie erzählt hatte. Und er erzählte mir die ganze Geschichte. Dass Litvak ihn bedrängte, wieder den Tzaddik zu spielen, um die Schwarzhüte mit ins Boot zu bekommen. Dass er sich vor Litvak versteckt hielt, aber es langsam satthätte. Er hätte sich sein Leben lang versteckt. Also ließ er sich von Litvak finden, bedauerte es aber sofort. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte nicht mehr fixen. Er wollte nicht aufhören. Er wollte nicht sein, was er nicht war, er wusste nicht, wie er sein sollte, was er war. Deshalb fragte er mich, ob ich ihm helfen würde.«

»Wie helfen?«, fragt Bina.

Hertz schürzt die Lippen, zuckt schwach mit den Achseln, und sein Blick schleicht sich davon in eine dunkle Ecke des Zimmers. Er ist fast achtzig Jahre alt, und bisher hat er noch niemals etwas gestanden.

»Er hat mir sein verfluchtes Problem gezeigt, es geht um Matt in zwei Zügen«, sagt Hertz. »Er meinte, er hätte es von einem Russen. Er meinte, wenn ich es löste, würde ich verstehen, wie ihm zumute sei.«

»Zugzwang«, sagt Bina.

»Was ist das?«, fragt Ester-Malke.

»Wenn man keinen guten Zug mehr hat«, sagt Bina. »Aber trotzdem ziehen muss.«

»Ah«, sagt Ester-Malke und verdreht die Augen. »Schach.«

»Seit Tagen treibt mich das in den Wahnsinn«, sagt Hertz. »Ich schaffe kein Matt in weniger als drei Zügen.«

»Läufer auf C2«, sagt Landsman. »Ausrufezeichen.«

Hertz braucht, wie Landsman findet, ziemlich lange, um es mit geschlossenen Augen nachzuvollziehen, doch schließlich nickt sein Onkel.

»Zugzwang«, sagt er.

»Warum, alter Mann? Warum sollte er glauben, du würdest das für ihn tun?«, sagt Berko. »Ihr kanntet euch doch kaum.«

»Er kannte mich. Er kannte mich sehr gut, ich weiß wirklich nicht, woher. Er wusste, wie ungern ich verliere. Dass ich Litvak mit dieser Torheit nicht durchkommen lassen konnte. Das konnte ich einfach nicht. Alles, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe.« Er hat einen bitteren Geschmack im Mund, verzieht das Gesicht. »Und ihr seht ja, was passiert ist. Sie haben’s getan.«

»Bist du durch den Tunnel reingekommen?«, fragt Meyer. »Ins Hotel?«

»Was für ein Tunnel? Ich bin einfach reingegangen. Ich weiß nicht, ob dir das schon aufgefallen ist, Meyerle, aber das ist nicht gerade ein Hochsicherheitstrakt, da, wo du wohnst.«

Zwei oder drei lange Minuten winden sich von der Spule. Draußen auf dem geschlossenen Balkon murren und fluchen Goldy und Pinky und hämmern auf ihre Betten ein wie Gnome an ihren Schmiedeöfen tief unter der Erde.

»Ich habe ihm geholfen, sich einen Schuss zu setzen«, sagt Hertz schließlich. »Ich habe gewartet, bis er weg war. Weit, weit weg. Dann habe ich Gaystiks Pistole genommen. Hab sie ins Kopfkissen gewickelt. Gaystiks ‚38 Detective Special. Hab den Jungen umgedreht, auf den Bauch. In den Hinterkopf. Ging schnell. Er hat nichts gespürt.«

Wieder leckt er sich über die Lippen, und Berko ist mit einem weiteren kühlen Schluck zur Stelle.

»Zu schade, dass du bei dir selbst nicht genauso tüchtig warst«, sagt Berko.

»Ich dachte, ich würde das Richtige tun, ich könnte Litvak damit aufhalten.« Der alte Mann klingt wehleidig, kindisch. »Aber dann haben die Schweine einfach weitergemacht und es ohne ihn versucht.«

Ester-Malke nimmt den Deckel von einem Glas mit gemischten Nüssen auf dem Beistelltisch und stopft sich eine Handvoll in den Mund. »Glaubt nicht, dass mich das alles nicht völlig verstören und entsetzen würde, Freunde«, sagt sie und hievt sich auf die Füße. »Aber ich bin eine müde Dame im ersten Drittel, und ich gehe jetzt ins Bett.«

»Ich bleibe bei ihm sitzen, Süße«, sagt Berko. Er fügt hinzu: »Falls er nur so tut und dann den Fernseher klaut, wenn wir schlafen.«

»Keine Sorge«, sagt Bina. »Er ist bereits verhaftet.«

Landsman steht neben der Couch und beobachtet, wie die Brust des alten Mannes sich hebt und senkt. Hertz’ Gesicht hat die Hohlkehlen und Facetten einer blättrigen Pfeilspitze.

»Er ist ein schlechter Mensch«, sagt Landsman. »War er schon immer.«

»Ja, aber er hat es wiedergutgemacht, indem er auch ein furchtbarer Vater war.« Lange betrachtet Berko Hertz voller Zärtlichkeit und Verachtung. Mit seinem Verband sieht der Alte wie ein verrückter Swami aus. »Was hast du vor?«

»Nichts, was meinst du damit, was ich vorhabe?«

»Weiß nicht, bei dir zuckt es wieder so. Du siehst aus, als hättest du was vor.«

»Was denn?«

»Das frage ich dich.«

»Ich tue gar nichts«, sagt Landsman. »Was soll ich schon tun?«

Ester-Malke bringt Bina und Landsman durch den Flur zur Wohnungstür. Landsman setzt seinen Filzhut auf.

»So«, sagt Ester-Malke.

»So«, sagen Bina und Landsman.

»Ich stelle fest, dass ihr beide zusammen geht.«

»Willst du, dass wir getrennt gehen?«, sagt Landsman. »Ich kann die Treppe nehmen und Bina den Fahrstuhl.«

»Landsman, ich will dir mal was sagen«, sagt Ester-Malke. »Die Leute, die da im Fernsehen überall in Syrien, Bagdad, Ägypten und so randalieren. In London, ja? Autos brennen. Botschaften werden angesteckt. Oben in Yakovy, hast du gesehen, was da passiert ist? Die haben getanzt, die bescheuerten Irren, die haben sich so über diesen ganzen Wahnsinn gefreut, dass der Fußboden durchgebrochen ist und sie in die Wohnung darunter gefallen sind. Zwei kleine Mädchen schliefen im Bett, die wurden zerquetscht. Das ist die Scheiße, auf die wir uns jetzt freuen dürfen. Brennende Autos und mörderische Tänze. Ich habe keine Ahnung, wo mein Kind geboren wird. Mein Schwiegervater, ein Mörder und Selbstmörder, schläft bei mir im Wohnzimmer. Und zwischendurch bekomme ich so komische Schwingungen von euch beiden. Ich will nur kurz sagen, falls Bina und du vorhaben solltet, wieder zusammenzukommen, tut mir leid, aber das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.«

Landsman denkt darüber nach. Jedes Wunder scheint ihm möglich. Dass die Juden sich aufrappeln und Segel setzen ins Gelobte Land, um sich an riesigen Weintrauben gütlich zu tun und den Wüstenwind in ihren Bärten spielen zu lassen. Dass der Tempel wieder errichtet wird, in unseren Tagen schiere. Der Krieg wird ein Ende finden, und überall werden Friede und Überfluss und Gerechtigkeit herrschen, und die Menschheit wird regelmäßig in den Genuss des Schauspiels kommen, den Löwen beim Lamm liegen zu sehen. Jeder Mann wird ein Rabbi sein, jede Frau ein heiliges Buch, und jeder Anzug wird mit zwei Hosen verkauft werden. Schon jetzt mag Meyers Same durch die Dunkelheit auf die Erlösung zuwandern, gegen die Membran stoßen, die das Erbe der Juden, die ihn geschaffen haben, von dem Erbe der Juden trennt, deren Fehler, Kummer, Hoffnungen und Katastrophen in die Erzeugung von Bina Gelbfish einflossen.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich die Treppe nehme«, sagt er.

»In Ordnung, Meyer, mach das«, sagt Bina.

Aber als er schließlich unten angelangt ist, steht sie am Treppenabsatz und wartet auf ihn.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragt sie.

»Ich musste zwischendurch ein-, zweimal stehen bleiben.«

»Du musst mit dem Rauchen aufhören. Zum zweiten Mal.«