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»Sie hat Angst zu hören, was ich gestern gegessen habe«, sagt Landsman. Als Ablenkungsmanöver holt er Laskers Exemplar der 300 Schachpartien aus der anderen Seitentasche seines Sakkos und legt es neben das Schachspiel auf die Theke.

»Geht es um deinen toten Junkie?«, fragt Berko und beäugt das Brett.

»Emanuel Lasker«, sagt Landsman. »Aber das war nur der Name auf dem Meldezettel des Hotels. Wir haben keinerlei Ausweispapiere bei ihm gefunden. Wir wissen noch nicht, wer er wirklich war.«

»Emanuel Lasker. Der Name kommt mir bekannt vor.«

In Anzughose und Hemdsärmeln quetscht sich Berko seitlich in die Küche. Seine Hose ist aus grauer Merinowolle mit Bundfalten vorne und hinten, das Hemd reinweiß. An seinem Hals hängt, hübsch gebunden, eine dunkelblaue Krawatte mit orangefarbenen Tupfen. Die Krawatte ist extralang, die Hose ist weit und wird von dunkelblauen Hosenträgern gehalten, gedehnt durch Umfang und Wölbung seines Bauches. Unter dem Hemd trägt Berko das mit Fäden verzierte Vier-Ecken, und eine schmucke blaue Jarmulke thront auf dem schwarz glänzenden Ginster seines Hinterkopfs, doch auf seinen Wangen will einfach kein Barthaar sprießen. Auf der Gesichtshaut der Männer seiner Familie mütterlicherseits ist kein Barthaar zu finden, zweifellos schon seit der Zeit, als der Rabe alles erschuf (außer der Sonne, die stahl er). Berko ist gläubig, aber auf seine eigene Weise und aus ganz privaten Gründen. Berko Shemets ist ein Minotaurus, und die Welt der Juden ist sein Labyrinth.

Zu den Landsmans im Haus auf der Adler Street kam er an einem Spätfrühlingstag im Jahr 1981, ein watschelndes Riesenbaby, im Sea Monster House des Raben-Clans vom Langhaarstamm bekannt als Johnny Bear, der Jude. In seinen Mukluks brachte er es an jenem Nachmittag auf einen Meter dreiundsiebzig, dreizehn Jahre alt und nur zweieinhalb Zentimeter kleiner als der achtzehnjährige Landsman. Bis zu jenem Augenblick hatte niemand gegenüber Landsman und seiner kleinen Schwester diesen Jungen erwähnt. Jetzt sollte das Kind in dem Zimmer schlafen, das einst Meyers und Naomis Vater als Klein-Flasche für die Endlosschleifen seiner Schlaflosigkeit gedient hatte.

»Wer bist du überhaupt?«, fragte Landsman den Jungen, der sich seitlich ins Wohnzimmer stahl. Er drehte eine Schirmmütze in den Händen und registrierte die Umgebung mit seinem dunklen, alles verzehrenden Blick. Hertz und Freydl standen draußen auf dem Bürgersteig und schrien sich an. Offenbar hatte Landsmans Onkel seiner Schwester gegenüber zu erwähnen versäumt, dass sein Sohn zu ihr ins Haus kommen würde.

»Ich heiße Johnny Bear«, sagte Berko. »Ich gehöre zur Shemets-Kollektion.«

Bis heute ist Hertz Shemets ein bekannter Fachmann für die Kunst- und Gebrauchsgegenstände der Tlingit. Einmal führte ihn dieses Hobby oder dieser Zeitvertreib auf einer Wanderung tiefer und weiter in das Indianerland, als je ein Jude seiner Generation gekommen war. Ja, doch, seine Beschäftigung mit der Kultur der Eingeborenen, seine Reisen in das Indianerland waren eine Trotzreaktion auf seine Tätigkeit bei der Spionageabwehr in den Sechzigern. Aber sie waren mehr als das. Hertz Shemets fühlte sich vom indianischen Leben angezogen. Er lernte, einen Seehund mit einem Stahlhaken durch das Auge zu töten, einen Bär zu schlachten und zu pökeln und den Geschmack von Kerzenfischfett genauso zu lieben wie den von Schmalz. Und er zeugte ein Kind mit Miss Laurie Jo Bear aus Hoonah. Als sie beim sogenannten Synagogen-Aufstand getötet wurde, rief ihr halbjüdischer Sohn, Objekt von Verachtung und Schikane innerhalb des Raben-Clans, seinen ihm kaum bekannten Vater um Hilfe an. Es war ein Zwischenzug, ein überraschendes Manöver in der erwartbaren Entwicklung eines Spiels. Es erwischte Onkel Hertz auf dem falschen Fuß.

»Was hast du vor, willst du ihn etwa wegschicken?«, schrie er Landsmans Mutter an. »Die machen ihm das Leben da oben zur Hölle. Seine Mutter ist tot. Von Juden ermordet.«

Tatsächlich wurden elf Ureinwohner Alaskas bei den Krawallen getötet, die auf die Bombardierung eines Gebetshauses folgten, das eine Gruppe von Juden auf umstrittenem Land erbaut hatte. Auf jenen kleinen Inseln gibt es Bereiche, wo die von Harold Ickes gezeichnete Landkarte zögert und sich auf gepunktete Linien beschränkt. Die meisten Ecken sind zu abgelegen oder gebirgig, um bewohnt zu sein, sie sind das ganze Jahr über gefroren oder überflutet. Aber einige dieser schraffierten Flecken, erlesen, eben und mild, sollten für die Juden in ihrer großen Zahl über die Jahre unwiderstehlich werden. Juden wollen Platz zum Leben. In den Siebzigern begannen einige von ihnen, hauptsächlich Angehörige kleiner orthodoxer Sekten, ihn sich zu nehmen.

Als eine Splittergruppe der Splittergruppe einer Sekte aus Lisianski ein Gebetshaus in St. Cyril erbaute, war das für viele Ureinwohner der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es folgten Demonstrationen, Kundgebungen, Anwälte und dumpfes Gepolter im Kongress, die frechen Juden oben im Norden hätten sich neuerlich über Frieden und Gleichheit hinweggesetzt. Zwei Tage vor der Einsegnung warf jemand — niemand erklärte sich je dafür verantwortlich oder wurde angezeigt — einen doppelten Molotowcocktail durchs Fenster, sodass das Gebetshaus bis auf die Grundmauern niederbrannte. Die Gemeinde und ihre Befürworter schwärmten nach St. Cyril aus, zerstörten Krabbenkörbe, warfen die Fenster des Versammlungssaals der Alaska Native Brotherhood ein und steckten spektakulär einen Schuppen voller Feuerwerkskörper in Brand. Der Fahrer einer Wagenladung zorniger Jids verlor die Kontrolle über sein Auto und raste in das Lebensmittelgeschäft, in dem Laurie Jo an der Kasse saß. Sie war auf der Stelle tot. Der Synagogen-Aufstand bleibt das übelste Kapitel in der bitteren, unrühmlichen Geschichte der Beziehungen zwischen Tlingit und Juden.

»Ist das vielleicht meine Schuld? Ist das mein Problem?«, schrie Landsmans Mutter zurück. »Ein Indianer in meinem Haus, so was kann ich nicht gebrauchen!«

Eine Weile hörten die Kinder zu. Johnny Bear stand in der Tür und trat mit den Turnschuhen gegen seinen Matchbeutel.

»Gut, dass du kein Jiddisch kannst«, sagte Landsman zu Johnny.

»Brauch ich gar nicht, du Blödmann«, sagte Johnny der Jude. »Diesen Scheiß höre ich schon mein Leben lang.«

Nachdem die Sache geklärt war — und sie war im Grunde schon geklärt, bevor Landsmans Mutter mit dem Geschrei begann —, kam Hertz herein, um sich zu verabschieden. Sein Sohn war fünf Zentimeter größer als er. Als er den Jungen kurz und unbeholfen an sich drückte, sah es aus, als würde ein Stuhl eine Couch umarmen. Dann trat er zurück.

»Es tut mir leid, John«, sagte er. Er packte seinen Sohn an den Ohren und hielt sie fest. Er überflog das Gesicht des Jungen wie ein Telegramm. »Ist mir wichtig, dass du das weißt. Ich möchte nicht, dass du mich irgendwann ansiehst und denkst, es täte mir nicht unglaublich leid.«

»Ich möchte bei dir wohnen«, sagte der Junge ausdruckslos.

»Das hast du schon gesagt.« Die Worte waren grob und gefühllos, doch plötzlich — es jagte Landsman einen Mordsschreck ein — glänzten Tränen in Onkel Hertz’ Augen. »Ich bin als absoluter Hurensohn bekannt, John. Bei mir wärst du schlimmer dran als auf der Straße.« Er betrachtete das Wohnzimmer seiner Schwester, die Plastikschonbezüge auf den Möbeln, die stacheldrahtähnliche Kunst, die abstrakte Menora. »Gott weiß, was sie hier aus dir machen.«

»Einen Juden«, sagte Johnny Bear, und es war schwer einzuschätzen, ob er damit prahlte oder seinen eigenen Untergang vorhersagte. »So einen wie dich.«

»Das scheint mir unwahrscheinlich«, sagte Hertz. »Möchte sehen, wie sie das schaffen. Auf Wiedersehen, John.«