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Er tätschelte den Kopf der kleinen Naomi. Kurz bevor er ging, hielt er inne, um Landsman die Hand zu reichen.

»Hilf deinem Cousin, Meyerle, er kann’s gebrauchen.«

»Er sieht aus, als könne er sich selbst helfen.«

»Das stimmt, nicht?«, sagte Onkel Hertz. »Das immerhin hat er von mir.«

Heute lebt Ber Shemets, wie er sich mit der Zeit anreden ließ, wie ein Jude und trägt Jarmulke und Vier-Ecken wie ein Jude. Er argumentiert wie ein Jude, betet wie ein Jude, zeugt wie ein Jude, liebt seine Frau wie ein Jude und dient dem Gemeinwohl wie ein Jude. Er entwirft Theorien mit den Händen, lebt koscher und trägt einen diagonal beschnittenen Penis (dafür hatte sein Vater gesorgt, bevor er Baby-Bär zurückließ). Aber äußerlich ist er ein waschechter Tlingit. Tartarenaugen, dichtes schwarzes Haar, ein breites, zur Freude bestimmtes, doch auch in der Kunst des Leidens geübtes Gesicht. Die Bears sind große Menschen, in Socken bringt es Berko auf zwei Meter und wiegt einhundertzehn Kilo. Er hat einen großen Kopf, große Füße, einen großen Bauch und große Hände. Alles an Berko ist groß, außer dem Kind auf seinem Arm, das Landsman scheu anlächelt. Es hat einen Schopf schwarzen Pferdehaars, das wie magnetisierte Eisenspäne absteht. Zuckersüß ist der Kleine, Landsman wäre der Erste, der das zugeben würde, aber selbst nach einem Jahr drückt der Anblick von Pinky eine Delle in die weiche Stelle hinter Landsmans Brustbein. Pinky wurde genau zwei Jahre nach Djangos errechnetem Termin geboren: am 22. September.

»Emanuel Lasker war ein berühmter Schachspieler«, informiert Landsman Berko, der von Ester-Malke einen Becher Kaffee entgegennimmt und mit gerunzelter Stirn in den Dampf blickt. »Ein deutscher Jude. Bis in die Zwanzigerjahre.« Landsman hat in der Zeit zwischen fünf und sechs an seinem Computer im leeren Dienstzimmer gesessen und versucht, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. »Mathematiker. Verlor gegen Capablanca, wie damals alle. Das Buch war in seinem Zimmer. Und ein Schachbrett, mit dieser Aufstellung.«

Berko hat schwere, seelenvolle, violett schimmernde Augenlider, aber wenn er sie über seine großen Augen senkt, dann ist es, als würde der Strahl einer Taschenlampe durch einen Schlitz fallen. Sein Blick ist so kalt und skeptisch, dass er einen Unschuldigen dazu bringen kann, sein eigenes Alibi zu bezweifeln.

»Und du hast das Gefühl«, sagt er mit einem bedeutungsschweren Seitenblick auf die Flasche Bier in Landsmans Hand, »dass die Anordnung der Figuren auf dem Brett … was?« Der Schlitz wird schmaler, der Strahl leuchtet heller. »Den Namen des Mörders verrät?«

»Im Alphabet von Atlantis«, sagt Landsman.

»Hm, hm.«

»Der Jude spielte Schach. Und band sich mit einem Tefillin den Arm ab. Er wurde mit großer Sorgfalt und Diskretion umgebracht. Keine Ahnung. Vielleicht ist das mit dem Schach völlig unwichtig. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Ich bin das ganze Buch durchgegangen, aber ich hab nicht herausbekommen, welche Partie er spielte. Vielleicht gar keine aus diesem Buch. Diese kleinen Zeichnungen, weiß nicht, ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich sie nur ansehe. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur das Brett sehe. Einen Fluch darauf.«

Landsmans Stimme klingt ebenso hohl und hoffnungslos, wie er sich fühlt, was alles andere als beabsichtigt ist. Berko schaut über Pinkys Kopf zu seiner Frau hinüber, um zu erfahren, ob er sich wirklich Sorgen um Landsman machen muss.

»Hör mal zu, Meyer. Wenn du das Bier wegstellst«, sagt Berko in dem misslungenen Versuch, nicht wie ein Polizist zu klingen, »dann darfst du dieses süße Baby halten. Wie wär’s? Guck dir den Kleinen doch mal an! Diese strammen Beinchen! Da will man doch reinkneifen. Stell das Bier zur Seite, ja? Und halt mal kurz dieses süße Baby.«

»Er ist wirklich ein Süßer«, sagt Landsman. Er saugt zwei weitere Zentimeter Bier aus der Flasche. Dann stellt er sie ab, wappnet sich, nimmt das Baby, riecht es und reißt die alte Wunde in seinem Herzen wieder auf. Pinky duftet nach Joghurt und Waschpulver. Dazu ein Hauch Piment von seinem Vater. Landsman trägt das Baby bis zur Küchentür und versucht nicht zu atmen, er beobachtet, wie Ester-Malke eine Waffel aus dem Eisen löst. Es ist ein altes Westinghouse mit Bakelitgriffen, die die Form von Blättern haben. Es kann bis zu vier knusprige Waffeln gleichzeitig backen.

»Buttermilch?«, fragt Berko und studiert das Schachbrett, fährt sich mit dem Finger über seine schwere Oberlippe.

»Was sonst?«, fragt Ester-Malke.

»Richtige oder Milch mit Essig?«

»Wir haben einen Blindtest gemacht, Berko.« Ester-Malke reicht Landsman einen Teller Waffeln im Austausch gegen ihren jüngeren Sohn, und obwohl Landsman nicht nach Essen zumute ist, lässt er sich nur zu gerne auf den Handel ein. »Du schmeckst den Unterschied gar nicht, schon vergessen?«

»Er kann ja auch nicht Schach spielen«, sagt Landsman. »Aber guck dir an, wie er so tut.«

»Leck mich, Meyer«, sagt Berko. »Also, jetzt mal im Ernst: Welche Figur ist das Schlachtschiff?«

Die Schachversessenheit der Familie war bereits verklungen oder in andere Bahnen gelenkt, als Berko zu Landsman und seiner Mutter kam. Isidor Landsman war sechs Jahre tot, und Hertz Shemets hatte sein Talent im Täuschen und Angreifen auf ein weitaus größeres Schachbrett verlagert. Daher gab es niemanden außer Landsman, der Berko das Spiel hätte beibringen können, eine Aufgabe, die er geflissentlich ignorierte.

»Butter?«, fragt Ester-Malke. Sie schöpft neuen Teig in die Waben des Waffeleisens, und Pinky sitzt auf ihrer Hüfte und erteilt unaufgeforderte Ratschläge.

»Keine Butter.«

»Sirup?«

»Keinen Sirup.«

»Du willst gar keine Waffel, Meyer, stimmt’s?«, sagt Berko. Er tut nicht länger so, als würde er das Schachbrett betrachten, sondern nimmt sich das Buch von Siegbert Tarrasch vor, als würde er daraus schlau werden.

»Ehrlich gesagt, nein«, sagt Landsman. »Aber ich weiß, dass es eigentlich besser wäre.«

Ester-Malke drückt den Deckel des Waffeleisens auf das Teiggitter.

»Ich bin schwanger«, sagt sie mit sanfter Stimme.

»Was?«, ruft Berko und schaut von dem Buch der geordneten Überraschungen auf. »Fuck!« Englisch ist die von Berko bevorzugte Sprache für Flüche und Schimpfwörter. Er beginnt, den kleinen Streifen imaginären Kaugummis zu bearbeiten, der immer in seinem Mund auftaucht, wenn er kurz vorm Platzen steht. »Super, Es! Einfach klasse! Echt! Weil in dieser beschissenen Wohnung ja gerade noch eine Schublade frei ist, wo kein Blag drinliegt!«

Dann hebt er 300 Schachpartien über den Kopf und holt theatralisch aus, um das Buch über die Frühstückstheke ins Wohnesszimmer zu schleudern. Es ist der Shemets in ihm, der da herauskommt. Auch Landsmans Mutter war dafür bekannt, im Zorn mit Gegenständen zu werfen, und die theatralischen Darbietungen von Onkel Hertz, jenem kühlen Genossen, sind selten, aber legendär.

»Beweismittel«, erinnert Landsman ihn. Berko hebt das Buch noch etwas höher, und Landsman sagt: »Das ist ein Beweismittel, verdammt!«, und dann wirft Berko tatsächlich. Das Buch wirbelt durch die Luft, die Seiten flattern, es streift etwas Klirrendes, wahrscheinlich die silberne Gewürzdose auf dem gläsernen Esstisch. Das Baby schiebt die Unterlippe vor, schiebt sie noch weiter vor, zögert, blickt von seiner Mutter zum Vater. Dann bricht es in trostloses Schluchzen aus. Böse sieht Berko Pinky an, als habe er ihn verraten. Er geht um die Theke herum, um das misshandelte Beweismittel aufzuheben.

»Was macht Papa da nur?«, sagt Ester-Malke zum Baby, küsst es auf die Wange und funkelt zornig das große schwarzumrandete Loch in der Luft an, das Berko hinterlassen hat. »Hat der böse Kommissar Supersperma ein dummes altes Buch weggeworfen?«

»Lecker!«, sagt Landsman und stellt seinen unberührten Teller ab. Er hebt die Stimme. »He, Berko, ich, ähm, ich glaube, ich warte lieber unten im Wagen auf dich.« Er streift Ester-Malkes Wangen mit den Lippen. »Sag Wie-heißt-er-noch-gleich tschüss von Onkel Meyerle.«