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Landsman geht nach draußen zum Aufzug, durch dessen Schacht der Wind pfeift. Fried, der Nachbar, kommt in seinem langen schwarzen Mantel aus der Wohnung, das weiße Haar ist zurückgekämmt und lockt sich über dem Kragen. Fried ist Opernsänger, und die Taytsh-Shemets haben das Gefühl, er behandle sie herablassend. Aber das glauben sie nur, weil Fried ihnen gesagt hat, er sei besser als sie. Im Allgemeinen bemühen sich die Sitkaner, auf dieser Beurteilung ihrer Nachbarn zu beharren, insbesondere wenn es Indianer sind oder sie weiter südlich leben. Fried und Landsman nehmen gemeinsam den Aufzug. Fried fragt Landsman, ob er in letzter Zeit irgendwelche Leichen gefunden habe, und Landsman fragt Fried, ob sich in letzter Zeit irgendein toter Komponist seinetwegen im Grabe umgedreht hätte, danach sagen sie nicht mehr viel. Landsman geht nach draußen zu seinem Wagen und steigt ein. Er lässt den Motor an und wartet in der hereingeblasenen Wärme. Mit Pinkys Geruch am Kragen und dem kühlen, trockenen Geist von Goldys kleiner Hand in seiner großen spielt er den Torwart, während eine Mannschaft sinnloser Reuegefühle einen Angriff auf seine Fähigkeit aufbaut, den Tag zu überstehen, ohne irgendetwas zu fühlen. Landsman steigt aus und raucht eine Papiros im Regen. Er blickt nach Norden, über den Hafen, zum gewundenen Aluminiumstift auf der windgepeitschten Insel. Wieder verspürt er stechende Sehnsucht nach der Weltausstellung, nach der heldenhaften jüdischen Ingenieurskunst des Safety Pin (offiziell trägt der Leuchtturm die Bezeichnung »Ort der Zuflucht«, aber so nennt ihn niemand) und nach dem Ausschnitt jener uniformierten Dame, die damals die Eintrittskarten für die Aufzugfahrt ins Restaurant in der Spitze des Safety Pins abriss. Dann setzt sich Landsman wieder in den Wagen. Einige Minuten später kommt Berko aus dem Haus und wälzt sich wie eine Basstrommel in den Super Sport. Er hält das Buch und das Schachspiel in einer Hand und balanciert beides auf dem linken Oberschenkel.

»Tut mir leid mit eben«, sagt er. »Total dämlich, hm?«

»Schon gut.«

»Wir müssen uns einfach was Größeres suchen.«

»Genau.«

»Irgendwo.«

»Das ist der Punkt.«

»Es ist ein Geschenk.«

»Klar! Masel-tow, Berko.«

Landsmans Glückwünsche sind so ironisch, dass sie schon wieder von Herzen kommen, sie kommen aus so tiefem Herzen, dass sie nur unehrlich klingen können, und so sitzen er und sein Kollege eine Weile im Auto, fahren nirgends hin und lauschen, wie die Glückwünsche gerinnen.

»Ester-Malke meint, sie ist ständig so müde, dass sie sich nicht mal daran erinnern kann, mit mir geschlafen zu haben«, sagt Berko mit einem tiefen Seufzer.

»Vielleicht habt ihr ja gar nicht.«

»Du meinst, es ist ein Wunder. Wie das sprechende Huhn beim Schlachter.«

»Hm.«

»Ein warnendes Zeichen und Sinnbild.«

»So kann man es auch sehen.«

»Apropos Zeichen«, sagt Berko. Er schlägt das in der öffentlichen Bibliothek von Sitka seit Langem vermisste Exemplar von 300 Schachpartien auf der Innenseite des Rückumschlags auf und schiebt die Rückgabekarte aus ihrer Tasche. Hinter der Karte, erkennt Landsman, steckt ein Foto, eine Farbaufnahme, 8 x 12 Zentimeter, Hochglanz, mit weißem Rand. Es zeigt ein Schild, ein Rechteck aus schwarzem Plastik, in das drei weiße römische Buchstaben gedruckt sind, darunter deutet ein weißer Pfeil nach links. Mit zwei schwachen Ketten ist das Schild an einer schmutzigweißen quadratischen Schallschluckplatte befestigt.

»Pie«, liest Landsman.

»Sieht aus, als ob es bei meiner energischen Untersuchung des Beweismittels herausgefallen wäre«, sagt Berko. »Ich nehme an, es war tief in die Tasche geschoben, sonst hättest du es mit deinem scharfen Schammes-Blick nicht übersehen. Erkennst du es?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich erkenne es wieder.«

Am Flugplatz der nördlich gelegenen, rauen Stadt Yakovy — von wo aus man, wenn man als Jude auf ein bescheidenes Abenteuer aus ist, in den bescheidenen Urwald des Distrikts aufbricht — liegt, versteckt am hinteren Ende des Hauptgebäudes, ein bescheidener Laden, der Pie verkauft, nichts anderes, nur Obstkuchen amerikanischer Art. Der Laden besteht aus kaum mehr als einem Fenster, das den Blick auf eine Backstube mit fünf glänzenden Öfen freigibt. Neben dem Fenster hängt eine weiße Tafel, auf die die Inhaber — ein feindseliges Ehepaar aus Klondike und seine geheimnisvolle Tochter — jeden Tag eine Liste des aktuellen Angebots schreiben: Brombeer, Apfel-Rhabarber, Pfirsich, Banane-Sahne. Der Kuchen ist gut, auf bescheidene Weise sogar berühmt. Jeder, der schon einmal am Flugplatz von Yakovy war, kennt ihn, und man erzählt von Menschen, die von Juneau oder Fairbanks oder von noch weiter angeflogen kommen, um ihn zu essen. Landsmans tote Schwester war ein besonders großer Fan von Kokos-Sahne.

»Und, nu«, sagt Berko. »Was denkst du?«

»Ich wusste es«, sagt Landsman. »In dem Moment, als ich in das Zimmer kam und Lasker da liegen sah, da sagte ich zu mir: Landsman, in diesem Fall wird es auf den Kuchen ankommen.«

»Du meinst also, es hat nichts zu bedeuten.«

»Nichts hat nichts zu bedeuten«, sagt Landsman, und plötzlich bekommt er keine Luft mehr, sein Hals ist geschwollen, Tränen brennen ihm in den Augen. Vielleicht ist es der Schlafmangel oder dass er zu viel Zeit in Gesellschaft seines Schnapsglases verbracht hat. Oder vielleicht ist es das unerwartete Bild von Naomi, die sich an die Wand neben dem namenlosen, unerklärbaren Kuchenladen lehnt, mit einer Plastikgabel ein Stück Kokos-Sahne-Kuchen von einem Pappteller spießt, die Augen schließt, die Lippen spitzt und kräuselt und mit animalischer Intensität den Mundvoll Creme und Krokant genießt. »Verdammt nochmal, Berko. Ich hab jetzt Lust auf so ein Stück Kuchen.«

»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagt Berko.

7.

Siebenundzwanzig Jahre lang war die Dienststelle Sitka Central provisorisch in elf Fertigbaumodulen auf einem leer stehenden Grundstück hinter dem alten russischen Waisenhaus untergebracht. Man munkelt, dass die Module in Slidell, Louisiana, ihr Leben als Bibelschule begannen. Sie haben keine Fenster, niedrige Decken, sind zugig und eng. Im Modul der Mordkommission findet der Besucher einen Empfangsbereich, jeweils ein Büro für die zwei Detective Inspectors, einen Duschraum mit Toilette und Waschbecken, ein Großraumbüro (vier Arbeitsplätze, vier Stühle, vier Telefone, eine Tafel und eine Reihe Postfächer), eine Vernehmungskammer mit heißem Stuhl und einen Pausenraum. Der Pausenraum ist ausgestattet mit einer Kaffeemaschine und einem kleinen Kühlschrank. Außerdem beherbergte das Zimmer lange Zeit eine blühende Sporenkolonie, die irgendwann in grauer Vorzeit spontan Form und Erscheinungsbild eines Sofas angenommen hatte. Doch als Landsman und Berko auf den Schotterparkplatz der Mordkommission einbiegen, schleppen zwei philippinische Wächter den monströsen Pilz gerade nach draußen.

»Er bewegt sich«, sagt Berko.

Seit Jahren wird damit gedroht, den Zweisitzer rauszuwerfen, und doch ist es ein Schock für Landsman, ihn nun letztlich ausgemustert zu sehen. Der Schock ist so groß, dass er ein, zwei Sekunden braucht, um die Frau wahrzunehmen, die neben der Treppe steht. Sie hält einen schwarzen Regenschirm in der Hand und trägt einen Parka in grellem Orange mit einem leuchtend grün gefärbten Kunstpelzbesatz. Ihr rechter Arm ist erhoben, ihr Zeigefinger weist auf die Müllcontainer, das Ganze gleicht einem Gemälde vom Erzengel Michael, der Adam und Eva aus dem Paradies vertreibt. Eine Korkenzieherlocke roten Haares hat sich aus dem grünen Pelz befreit und hängt der Frau ins Gesicht. Das ist für sie ein ständiges Problem. Wenn sie sich hinkniet, um am Tatort einen suspekten Fleck auf dem Boden zu untersuchen, oder wenn sie ein Foto mit einer Lupe studiert, muss sie diese Locke mit einem gereizten, scharfen Atemstoß zur Seite pusten.