»Gut, hört zu, Jungs«, sagt Bina. Sie ist eine Frau, die der Katze die Schelle umhängt und den Stier bei den Hörnern packt. »Wir alle sind uns dieser unangenehmen Situation bewusst. Es wäre schon seltsam genug, wenn ich einfach nur eure Kollegin wäre. Dass ich mit einem von euch verheiratet war und der andere mein, ähm, Cousin war, hm, Shit.« Das letzte Wort sagt sie in tadellosem Englisch, wie auch die nächsten vier. »Know what I’m saying?«
Sie hält inne, scheint auf eine Reaktion zu warten. Landsman sieht Berko an.
»Der Cousin, das warst du, oder?«
Bina lächelt, um Landsman zu zeigen, dass sie ihn nicht für besonders witzig hält. Sie greift hinter sich und zieht einen Stapel hellblauer Mappen vom Aktenschrank, jede mindestens anderthalb Zentimeter dick, alle markiert mit einem Reiter aus hustensaftrotem Plastik. Der Anblick lässt Landsmans Herz tiefer rutschen, so wie jedes Mal, wenn er durch einen unglücklichen Zufall auf sein Ebenbild im Spiegel trifft.
»Seht ihr die hier?«
»Ja, Inspector Gelbfish«, sagt Berko, und es klingt sonderbar unehrlich. »Ich sehe sie.«
»Wisst ihr, was das ist?«
»Das können nicht unsere offenen Fälle sein«, sagt Landsman. »Die können nicht aufgestapelt auf deinem Schreibtisch liegen.«
»Wisst ihr, was gut war an Yakovy?«, fragt Bina.
Die beiden warten auf den Reisebericht ihrer Vorgesetzten. Sie sagt: »Der Regen. Fünfhundert Zentimeter pro Jahr. Da vergehen einem die flotten Sprüche. Selbst einem Jid.«
»Das ist ’ne Menge«, sagt Berko.
»Jetzt hört mir zu. Und hört bitte gut zu, weil ich nämlich Schwachsinn erzähle. In zwei Monaten wird ein US-Marshall im Billiganzug mit seinem Sonntagsschulgelaber in diesen gottverlassenen Container schreiten und verlangen, dass ich ihm die Schlüssel zu dem Abnormitätenkabinett aushändige, das hier unter der Bezeichnung ›Aktenschrank der B-Mannschaft‹ firmiert, die zu leiten ich seit heute Morgen die Ehre habe.« Es sind Schwätzer, die Gelbfishs, Redner und Neunmalkluge und Könige im Schmeicheln. Beinahe hätte Binas Vater Landsman überzeugt, seine eigene Tochter nicht zu heiraten. Am Abend vor der Hochzeit. »Und ehrlich, ich meine das ganz ernst: Ihr beiden wisst, dass ich mir den Arsch aufgerissen habe, solange ich hier gearbeitet habe, weil ich gehofft hatte, irgendwann das Glück zu haben, ihn mir auf diesem Stuhl breitsitzen zu können, hinter diesem Schreibtisch, und die große Tradition von Sitka Central aufrechtzuerhalten, dass wir hin und wieder mal einen Mörder erwischen und ins Gefängnis bringen. Und jetzt sitze ich hier. Bis zum ersten Januar.«
»Uns geht es genauso, Bina«, sagt Berko, und diesmal klingt er ehrlicher. »Abnormitätenkabinett und so.«
Landsman sagt, für ihn gelte das doppelt.
»Das weiß ich zu schätzen«, sagt Bina. »Und ich weiß, wie sehr euch das hier … zu schaffen macht.«
Und sie legt ihre lange, sommersprossige Hand auf den Aktenstapel. Korrekt erfasst müssten es elf Mappen sein, die älteste über zwei Jahre alt. In der Mordkommission arbeiten noch drei weitere Kollegenpaare, doch keines kann mit einem so hübschen hohen Stapel ungelöster Fälle aufwarten.
»Beim Feytel sind wir nah dran«, sagt Berko. »Da warten wir nur noch auf den Bezirksstaatsanwalt. Und bei Pinsky. Und bei der Sache mit Zilberblat. Zilberblats Mutter —«
Bina hebt die Hand, unterbricht Berko. Landsman sagt nichts. Er schämt sich zu sehr. Was ihn betrifft, ist der Aktenstapel ein Denkmal seines jüngsten Niedergangs. Dass er nicht noch zwanzig Zentimeter höher ist, zeugt lediglich von der Standhaftigkeit, mit der sein kleiner großer Cousin Berko ihn stützt.
»Hör auf«, sagt Bina. »Hör auf damit. Und pass gut auf, denn jetzt kommt der Teil, wo meine schnelle Auffassungsgabe für Schwachsinn aufblitzt.«
Sie greift hinter sich und zieht ein Blatt Papier aus ihrem Eingangskörbchen, dann noch eine deutlich dünnere blaue Akte, die Landsman sofort erkennt, da er sie selbst um halb fünf am Morgen angelegt hat. Bina greift in die Brusttasche ihres Hosenanzugs und zieht eine Halbbrille hervor, die Landsman noch nie zuvor gesehen hat. Sie wird alt, und er wird alt, ganz nach Plan, und doch sind sie, während der Zahn der Zeit an ihnen nagt, sonderbarerweise nicht mehr miteinander verheiratet.
»Die weisen Juden, die unser Schicksal als Polizeibeamte des Distrikts Sitka verfolgen, haben eine Richtlinie erlassen«, beginnt Bina. Sie überfliegt das Blatt Papier mit einer gewissen Unruhe, ja mit Entsetzen. »Diese Richtlinie basiert auf der großartigen Annahme, dass es schön für alle wäre — ganz zu schweigen von der anschließenden adäquaten Berichterstattung —, wenn es bei der Übergabe der Befehlsgewalt an den US-Marshall von Sitka keine offenen Fälle mehr gäbe.«
»Give me a fucking break, Bina«, sagt Berko. Er hat sofort begriffen, worauf Inspector Gelbfish hinauswill. Landsman braucht eine Minute länger.
»Keine offenen Fälle«, wiederholt er mit idiotischer Ruhe.
»Diese Richtlinie«, sagt Bina, »hat den eingängigen Namen ›effektive Lösung‹ bekommen. Im Grunde genommen bedeutet es, dass ihr genauso viel Zeit in die Lösung eurer offenen Fälle investieren müsst, wie noch Arbeitstage übrig sind als Beamte der Mordkommission mit der Marke dieses Distrikts. Also ungefähr neun Wochen. Ihr habt elf offene Fälle. Ihr könnt sie aufteilen, wie ihr wollt, schon klar. Wie auch immer ihr’s machen wollt, ich bin einverstanden.«
»Einfach abwickeln?«, sagt Berko. »Du meinst —«
»Du weißt, was ich meine, Detective«, sagt Bina. Jetzt ist keinerlei Gefühl in ihrer Stimme und kein erkennbarer Ausdruck in ihrem Gesicht. »Hängt sie irgendwelchen Leuten an, die ihr finden könnt. Wenn ihr sie keinem anhängen könnt, nehmt ein bisschen Klebstoff. Den Rest« — ihre Stimme stockt ganz leicht — »steckt ihr einfach mit einem schwarzen Reiter versehen in Schrank 9.«
In Schrank 9 werden die unaufgeklärten Fälle verwahrt. Einen Fall in Schrank 9 abzulegen, spart Platz, aber ist so, als würde man die Akte in Brand setzen und mit der Asche bei stürmischem Wind spazieren gehen.
»Wir sollen sie versenken«, sagt Berko und kurbelt den Satz am Ende zu einer Frage hoch.
»Bemüht euch redlich innerhalb der Grenzen dieser neuen Richtlinie mit dem klangvollen Namen, und wenn das nicht hilft, bemüht euch unredlich.« Bina starrt auf den kuppelförmigen Briefbeschwerer auf Felsenfelds Tisch. Die Kuppel enthält ein winziges Modell der Silhouette von Sitka, eine Karikatur aus billigem Plastik. Ein Wirrwarr von Hochhäusern in einer Traube um den Safety Pin, jenen einsamen Finger, der wie anklagend gen Himmel weist. »Und dann pappt einen schwarzen Reiter drauf.«
»Du sprachst von elf«, sagt Landsman.
»Das ist dir aufgefallen.«
»Aber nach gestern Abend haben wir, bei allem Respekt, Inspector, und so peinlich das auch ist … ähm, es sind zwölf. Nicht elf. Zwölf offene Fälle bei Shemets und Landsman.«
Bina greift zu dem schmalen blauen Ordner, den Landsman in der letzten Nacht zur Welt gebracht hat.
»Der hier?« Sie schlägt ihn auf und studiert vorgeblich oder tatsächlich Landsmans Bericht über die augenscheinlich aus kürzester Entfernung erfolgte Hinrichtung des Mannes, der sich Emanuel Lasker nannte. »Ja. Gut. So, jetzt möchte ich, dass ihr zuguckt, wie das geht.«