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Sie zieht die oberste Schublade von Felsenfelds Schreibtisch auf, der, zumindest in den nächsten zwei Monaten, ihr gehören wird. Sie wühlt darin herum und zieht eine Grimasse, als wären darin ganz viele benutzte Schaumstoffohrstöpsel, was beim letzten Mal, als Landsman hineinschaute, tatsächlich der Fall war. Bina holt einen Plastikreiter zur Kennzeichnung von Akten hervor. Einen schwarzen. Sie fummelt den roten Reiter ab, den Landsman früh am Morgen auf die Lasker-Akte gedrückt hat, und tauscht ihn gegen den schwarzen aus, dabei atmet sie durch die Nase, so als würde man eine schwärende Wunde säubern oder etwas Ekelerregendes vom Teppich wischen. In den zehn Sekunden, die sie für den Wechsel braucht, altert sie um zehn Jahre, findet Landsman. Dann hält sie den jüngsten ungeklärten Fall von sich weg, zwischen zwei Fingern wie mit einer Pinzette.

»Effektive Lösung«, sagt sie.

8.

Das Nos ist, wie der Name schon sagt, eine Kneipe für Gesetzesvertreter, geschwängert mit nosigen Klagen und Klatsch, die von zwei ehemaligen Nos geführt wird. Das Nos hat nie geschlossen, und nie gehen der Kneipe die dienstfreien Gesetzesvertreter aus, die die große Eichentheke vorm Umfallen bewahren. Das Nos ist der richtige Ort, wenn man seiner Wut über das jüngste Meisterwerk von Schwachsinn Ausdruck verleihen möchte, das von den Abteilungsleitern nach unten durchgereicht wurde. Deshalb meiden Landsman und Berko den Laden. Sie gehen am Pearl of Manila vorbei, obwohl sie von den chinesischen Donuts nach Filipino-Art, glitzernde, zuckerbestäubte Zeichen einer besseren Existenz, angelockt werden. Sie meiden Feter Shnayer und Karlinsky’s, dann das Inside Passage und den Nyu-Yorker Grill. So früh am Morgen sind die meisten Läden eh noch geschlossen, und wer geöffnet hat, bedient Bullen, Feuerwehrleute oder Sanitäter.

Landsman und Berko, der große Mann und der kleine, ziehen die Schultern hoch gegen die Kälte und hasten aneinanderstoßend voran. Ihr Atem steigt in Schwaden auf, die sich umeinander winden und dann vom großen Nebel verschluckt werden, der über der Untershtot liegt. Dunstwolken ziehen durch die Straßen, lassen Scheinwerfer und Neonlichter verschwimmen, verhüllen den Hafen und hinterlassen einen Film ölig-silbriger Perlen auf Mantelaufschlägen und Hüten.

»Ins Nyu-Yorker geht keiner«, sagt Berko. »Da könnten wir hin.«

»Ich hab Tabatchnik mal da gesehen.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Tabatchnik niemals die Entwürfe für deine Geheimwaffe stehlen würde, Meyer.«

Landsman wünscht, er wäre im Besitz von Entwürfen für phantasievolle Todesstrahlen oder Gedankenkontrolllampen, irgendetwas, das die Korridore der Macht erschüttert. Das den Amerikanern mal richtig Angst vor Gott einjagt. Das, wenn auch nur für ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert, die Gezeiten des jüdischen Exils aufhält.

Gerade wollen sie es mit dem düsteren Front Page aufnehmen, wo die Milch geronnen ist und der Kaffee kurz zuvor noch als Bariumklistier im Krankenhaus von Sitka diente, da entdeckt Landsman, wie der alte Dennis Brennan mit seinem Khaki-Arsch auf einen schwankenden Hocker am Tresen klettert. Schon seit das Blat vor Jahren dichtmachte und die Tog ihre Büros in ein neues Gebäude draußen am Flughafen verlegte, geht die Presse nicht mehr ins Front Page. Aber es ist schon eine Weile her, dass Brennan Sitka auf der Suche nach Glück und Gloria verließ. Er muss gerade wieder zurück in die Stadt geschneit sein. Offenbar hat ihm keiner erzählt, dass das Front Page tot ist.

»Zu spät«, sagt Berko. »Bastard hat uns gesehen.«

Im ersten Moment ist Landsman nicht sicher, ob das stimmt. Brennan sitzt mit dem Rücken zur Tür und studiert den Börsenteil jener berühmten amerikanischen Zeitung, deren Zweigstelle er bildete, bevor er seine große Chance bekam. Landsman greift nach Berkos Mantel und will den Kollegen die Straße hinunterziehen. Er sucht den perfekten Ort zum Reden, wo man vielleicht einen Bissen essen kann, ohne belauscht zu werden.

»Detective Shemets! Moment mal!«

»Zu spät«, räumt Landsman ein.

Er dreht sich um, und da steht Brennan, der Mann mit dem gewaltigen Kopf, hut- und mantellos, die Krawatte über die Schulter geweht, ein Penny im linken Slipper, den Bankrott im rechten. Flicken an den Ellenbogen seines Tweedsakkos im praktischen Farbton von Soßenflecken. Seine Wangen könnten eine Rasur vertragen, sein Schädel eine Wachspolitur. Vielleicht lief es doch nicht so prächtig für Dennis Brennan damals, als er groß rauskommen wollte.

»Guck dir den Kopf von dem Schejgetz an, der hat eine eigene Atmosphäre«, sagt Landsman. »Vereiste Polkappen.«

»Der Mann hat wirklich einen sehr großen Kopf.«

»Wenn ich ihn sehe, tun mir Hälse immer so leid.«

»Vielleicht sollte ich die Hände um seinen Hals legen. Zur Unterstützung.«

Brennan hebt seine weißen Larvenfinger und blinzelt mit den Äuglein. Sie sind vom farblosen Blau entrahmter Milch. Er setzt ein einstudiertes, reumütiges Lächeln auf, aber Landsman merkt, dass er gute eins zwanzig Ben Maymon Street Abstand zu ihm und Berko hält.

»Es besteht kein Bedarf, die unbesonnenen Drohungen von ehedem zu wiederholen, Detective Shemets, das versichere ich Ihnen«, sagt der Journalist in seinem flinken, grotesken Jiddisch. »Sie bleiben immergrün und kraftstrotzend im Saft ihrer ursprünglichen Gewalt.«

Brennan studierte Deutsch auf dem College und lernte Jiddisch bei einem aufgeblasenen alten Deutschen am Institut. Daher spricht er, so bemerkte einmal jemand, »wie ein Wurstrezept mit Fußnoten«. Ein starker Trinker, vom Temperament her inkompatibel mit langer Dämmerung und Regen. Legt die falsche Fährte aus, dumpf und schwer von Begriff zu sein, in gewisser Weise üblich unter Polizisten und Reportern. Dennoch ein Schlemiel. Niemand wunderte sich mehr über das Aufsehen, das Dennis Brennan in Sitka erregte, als Brennan selbst.

»Ich möchte Ihnen im Voraus versichern, dass ich Ihren Zorn fürchte, Detective. Und dass ich gerade vorgab, Sie an diesem trostlosen Loch unbemerkt vorbeigehen zu lassen, für das einzig und allein die völlige Abwesenheit von Zeitungsreportern spricht sowie die Tatsache, dass der Wirt in der langen Zeit meiner Abwesenheit meinen Schuldenstand vergessen hat. Mir ist jedoch bewusst, dass eine derartige Strategie sich bei meinem Glück bald wenden und mir in den Arsch beißen wird.«

»So viel Hunger hat keiner«, sagt Landsman. »Da hätten Sie wahrscheinlich nichts zu befürchten.«

Brennan wirkt verletzt. Eine empfindsame Seele ist er, dieser makrozephale Nichtjude, er labt sich an Kränkungen und ist resistent gegenüber Neckereien und Ironie. Seine gedrechselte Sprechweise lässt alles aus seinem Mund wie einen Scherz klingen, was nur das Bedürfnis dieses Mannes steigert, ernst genommen zu werden.

»Dennis J. Brennan«, sagt Berko. »Wieder unterwegs in Sitka?«

»Ich bin gestraft, Detective Shemets, ich bin gestraft.«

Das versteht sich von selbst. Eine Versetzung in die Sitkaer Zweigstelle jeder beliebigen amerikanischen Zeitung oder Fernsehstation, die überhaupt noch eine aufrechterhält, ist eine sprichwörtliche Bestrafung für Unfähigkeit oder Versagen. Brennans Rückversetzung hierher muss die Folge eines ganz kolossal verbockten Mists sein.

»Ich dachte, deshalb hätte man Sie weggeschickt, Brennan«, sagt Berko, und jetzt macht er keine Witze. Sein Blick wird leer, und er kaut den imaginären Streifen Doublemint oder Seehundfett oder den knorpeligen Klumpen von Brennans Herz. »Als Strafe für Ihre Sünden.«

»Meine Motivation, eine Tasse furchtbaren Kaffees stehenzulassen, Detective, und ein geplatztes Treffen mit einem Informanten, dem sowieso alles abgeht, was Informationen ähnelt, ist, hier herauszukommen und Ihren etwaigen Zorn in Kauf zu nehmen.«

»Brennan, Mensch, sprechen Sie Englisch!«, sagt Berko. »Was wollen Sie, verfluchter Dreck?«