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»Das ist ’ne Puppe«, sagt Berko.

»Ein Schatz«, pflichtet Landsman ihm bei. »Sie ist nur morgens hier. So muss sie sich nicht mit der Kundschaft rumschlagen.« Das Vorsht ist der Laden, wo die Musiker von Sitka weitertrinken, wenn Theater und Clubs schließen. Weit nach Mitternacht drängen sie sich hinein, Schnee auf den Hüten, Regen in den Aufschlägen, und bevölkern die kleine Bühne, schlachten sich gegenseitig mit Klarinetten und Geigen. Wie gewöhnlich, wenn sich Engel treffen, besteht ihre Gefolgschaft aus Teufeln: Gangster, Gannefs und glücklose Frauen. »Sie macht sich nichts aus Musikern.«

»Aber ihr Mann war doch … Ah, verstehe.«

Nathan Kalushiner war bis zu seinem Tod Inhaber des Vorsht und der König der Sopranklarinette. Er war ein Spieler und ein Junkie und in vielerlei Hinsicht ein schlechter Mann, aber er spielte, als wohne ein Dibbuk in ihm, und Landsman, der Musikliebhaber, passte immer auf den verrückten kleinen Schejgetz auf und versuchte, Kalushiner aus den hässlichen Situationen zu helfen, in die sein schlechtes Urteilsvermögen und seine angenagte Seele ihn brachten. Eines Tages verschwand Kalushiner mit der Frau eines wohlbekannten russischen Schtarkers und hinterließ Mrs. Kalushiner nichts als das Vorsht und die gute Absicht seiner Gläubiger. Später wurden Teile von Nathan Kalushiner unter den Docks oben in Yakovy angespült, nicht aber seine Sopranklarinette.

»Und das ist der Hund von dem Typ?«, fragt Berko und weist auf die Bühne. An der Stelle, wo Kalushiner jeden Abend stand und spielte, sitzt ein kraushaariger Terriermischling, weiß mit braunen Flecken und einem schwarzen Ring ums Auge. Er hockt einfach mit gespitzten Ohren da, als lausche er dem Echo einer Stimme oder der Musik in seinem Kopf. Eine durchhängende Kette verbindet den Hund mit einem Stahlring in der Wand.

»Das ist Hershel«, sagt Landsman. Etwas an dem geduldigen Gesichtsausdruck des Hundes, an der stillen, hündischen Leidensfähigkeit, tut Landsman weh. Er wendet den Blick ab. »Seit fünf Jahren sitzt er da.«

»Rührend.«

»Kann schon sein. Aber ehrlich gesagt, läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich das Tier sehe.«

Mrs. Kalushiner kommt zurück mit einer Metallschüssel voll eingelegter Tomaten und Gurken, einem Korb mit Brötchen und einer Schale saurer Sahne. Alles schaukelt auf ihrem linken Arm. Die rechte Hand trägt natürlich den Pappspucknapf.

»Tolle Mixpickles«, versucht es Berko, und als er damit nichts erreicht: »Süßer Hund.«

Rührend findet Landsman die Mühe, die Berko Shemets immer bereit ist zu investieren, wenn er ein Gespräch mit jemandem beginnt. Je mehr sich der andere zurückzieht, desto entschlossener wird der alte Berko. Das war bei ihm schon als Kind so. Er besaß diesen Eifer, sich auf Menschen einzulassen, besonders auf seinen vakuumversiegelten Cousin Meyer.

»Ein Hund ist ein Hund«, sagt Mrs. Kalushiner.

Sie knallt die Mixpickles und die saure Sahne auf den Tisch, lässt den Korb mit den Mohnbrötchen fallen und zieht sich dann mit erneutem Perlengeklapper ins Hinterzimmer zurück.

»Ich müsste dich um einen Gefallen bitten«, sagt Landsman, den Blick auf den Hund gerichtet, der sich nun mit arthritischen Knien auf die Bühne gelegt und den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet hat. »Und ich hoffe sehr, dass du nein sagst.«

»Hat dieser Gefallen irgendwas mit einer ›effektiven Lösung‹ zu tun?«

»Machst du dich über die Richtlinie lustig?«

»Nicht nötig«, sagt Berko. »Das macht die Richtlinie schon selbst.« Er zupft eine eingelegte Tomate aus der Schale, tupft sie in die saure Sahne und schiebt sie sich mit dem Zeigefinger dezent in den Mund. Aus Freude an dem in seinem Mund spritzenden sauren Gemisch aus Fruchtfleisch und Lake verzieht er das Gesicht. »Bina sieht gut aus.«

»Hab ich auch gedacht.«

»Ein richtiger Kerl.«

»Hast du immer schon gesagt.«

»Bina, Bina.« Freudlos schüttelt Berko den Kopf, aber gleichzeitig gelingt es ihm irgendwie, liebevoll dreinzuschauen. »In ihrem letzten Leben muss sie eine Wetterfahne gewesen sein.«

»Das stimmt nicht«, sagt Landsman. »Es stimmt, aber es stimmt nicht.«

»Du meinst, Bina ist keine Karrierefrau?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie ist eine, Meyer, war sie schon immer. Das gehört zu den Dingen, die mir an ihr am besten gefallen. Bina ist ein kluges Köpfchen. Sie ist hartnäckig. Sie ist politisch. Sie wirkt loyal, in beide Richtungen, nach oben und nach unten, und das ist ganz schön schwierig. Sie hat das Zeug zum Inspector. Bei jeder Polizei, in jedem Land der Welt.«

»Sie war Klassenbeste«, sagt Landsman. »An der Akademie.«

»Aber du hattest mehr Punkte im Eignungstest.«

»Ja, schon«, sagt Landsman. »Stimmt. Habe ich das mal erzählt?«

»Selbst die US-Marshals sind so schlau, dass sie auf Bina Gelbfish aufmerksam werden«, sagt Berko. »Sie will doch nur sichergehen, dass es in Sitka auch nach der Reversion einen Platz für sie im Gesetzesvollzug gibt, und das werde ich ihr nicht zum Vorwurf machen.«

»So siehst du das also«, sagt Landsman. »Ich glaube das aber nicht. Das ist nicht der Grund, warum sie die Stelle angenommen hat. Oder nicht der einzige Grund.«

»Warum denn dann?«

Landsman zuckt mit den Schultern.

»Weiß ich nicht«, gibt er zu. »Vielleicht fiel ihr nichts Besseres ein, was sie sonst tun sollte.«

»Hoffentlich doch. Sonst ist sie plötzlich wieder mit dir zusammen.«

»Gottbewahre!«

»Horror!«

Landsman tut, als würde er dreimal über die Schulter nach hinten spucken. Und als er sich gerade fragt, ob diese Sitte etwas mit der Tradition des Tabakkauens zu tun hat, kehrt Mrs. Kalushiner zurück, die schwere Eisenkugel ihres Lebens hinter sich her ziehend.

»Ich habe hartgekochte Eier«, sagt sie drohend. »Ich habe Bagel. Ich habe Kalbsbeinsülze.«

»Nur eine Kleinigkeit zu trinken, Mrs. K.«, sagt Landsman. »Berko?«

»Sprudelwasser«, sagt Berko. »Mit einem Schnitz Zitrone.«

»Sie wollen essen«, sagt sie zu ihm. Es ist keine Frage.

»Warum nicht?«, sagt Berko. »Na gut, bringen Sie mir ein paar Eier.«

Mrs. Kalushiner wendet sich Landsman zu, und er spürt Berkos Augen auf sich. Sie fordern ihn heraus, sie rechnen damit, dass er einen Sliwowitz bestellt. Er spürt Berkos Erschöpfung, seine Ungeduld und seinen Überdruss mit Landsman und dessen Problemen. Es ist langsam an der Zeit, dass er sich zusammenreißt, oder? Dass er etwas findet, wofür es sich zu leben lohnt, und einfach weitermacht.

»Coca-Cola«, sagt Landsman. »Bitte.«

Es mag die erste Antwort sein, mit der Landsman oder jemand anders die Witwe von Nathan Kalushiner je überrascht hat. Sie hebt eine stahlgraue Augenbraue und wendet sich ab. Berko greift zu einer eingelegten Gurke und schüttelt die Pfefferkörner und Nelken ab, die ihre warzige grüne Haut sprenkeln. Er zermalmt die Gurke zwischen den Zähnen und runzelt glücklich die Stirn.

»Nur eine saure Frau macht gute Mixpickles«, sagt er, und dann beiläufig neckend: »Willst du auch bestimmt kein Bier?«

Liebend gerne würde Landsman ein Bier trinken. Er schmeckt das bittere Karamell hinten auf der Zunge. Der Inhalt von Ester-Malkes Flasche muss seinen Körper noch verlassen, aber Landsman erhält Signale, dass die Flüssigkeit ihre Siebensachen gepackt hat und abfahrbereit ist. Der Vorschlag oder der Appell, den er seinem Kollegen machen wollte, erscheint ihm jetzt als die vielleicht dümmste Idee, die er je gehabt hat, und alles andere als lebenswert. Aber es muss sein.

»Scheiße«, sagt er und erhebt sich vom Tisch. »Ich muss mal pinkeln.«

Auf dem Herrenklo findet Landsman den Körper eines E-Gitarristen. Oft hat Landsman von einem Tisch hinten im Vorsht diesen Jid und sein Spiel bewundert. Er war einer der Ersten, der die Technik und die Einstellung der amerikanischen und britischen Rockgitarristen in die Bulgars und Frejlechs der jüdischen Tanzmusik importierte. Er hat ungefähr dasselbe Alter und dieselbe Vergangenheit wie Landsman, wuchs wie er auf in Halibut Point, und in prahlerischen Momenten hat Landsman sich oder vielmehr seine Polizeiarbeit mit dem intuitiven, aufblitzenden Spiel dieses Mannes verglichen, der nun tot oder ohnmächtig im Klo liegt, die Geldhand in der Toilettenschüssel. Er trägt einen dreiteiligen Lederanzug und eine rote Stoffkrawatte. Seine gerühmten Finger sind ihrer Ringe beraubt, geisterhafte Einkerbungen sind zurückgeblieben. Auf dem gekachelten Boden liegt eine Brieftasche, sie wirkt leer und gedehnt.