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Der Musiker schnarcht, einmal. Mit seinen intuitiven, aufblitzenden Fähigkeiten tastet Landsman die Halsschlagader des Mannes nach einem Puls ab. Er schlägt gleichmäßig. Die Luft um den Musiker summt fast bis zur Selbstentzündung vor Alkohol. Tatsächlich scheinen Bargeld und Ausweise aus der Brieftasche geplündert zu sein. Landsman klopft den Musiker ab und findet ein Fünftel kanadischen Wodkas in der linken Tasche des Ledersakkos. Die Knete haben sie ihm genommen, aber nicht den Schnaps. Landsman will nichts trinken. Ganz im Gegenteiclass="underline" Bei der Vorstellung, diesen Dreck in seinen Magen zu kippen, geht sogar ein Ruck durch ihn, als würde sich so etwas wie ein moralischer Muskel zusammenziehen. Er wagt einen kurzen Blick in den spinnwebverhangenen Rübenkeller seiner Seele und kommt nicht umhin festzustellen, dass sein pulsierender Ekel vor der immer noch beliebten kanadischen Wodkamarke offenbar etwas mit seiner Exfrau zu tun hat, mit der Tatsache, dass sie wieder in Sitka ist und so stark und saftig und binamäßig aussieht. Ihr täglicher Anblick wird eine Qual sein, so wie Gott Moses jeden einzelnen Tag seines Lebens mit dem flüchtigen Blick auf Zion vom Gipfel des Berges Nebo quälte.

Landsman schraubt die Wodkaflasche auf und nimmt einen großen, langen Schluck. Er brennt wie eine Mischung aus Lösungsmittel und Lauge. Es bleiben noch einige Zentimeter in der Flasche, aber Landsman selbst ist vom Scheitel bis zur Sohle prall gefüllt mit purer, brennender Reue. Die alten Parallelen, die er einst selbstzufrieden zwischen dem Gitarristen und sich zog, wenden sich nun gegen ihn. Nach einer kurzen, aber heftigen Debatte beschließt Landsman, die Flasche nicht in den Müll zu werfen, wo sie keinem etwas nützt. Er verlegt sie in die gemütliche Seitentasche seines eigenen Niedergangs. Dann zerrt er den Musiker aus dem Klo und trocknet sorgfältig dessen rechte Hand. Zum Schluss pinkelt er, schließlich ist er deshalb hergekommen.

Die Musik von Landsmans Urin auf Porzellan und Wasser verlockt den Musiker, die Augen zu öffnen.

»Mir geht’s gut«, sagt er vom Boden aus zu Landsman.

»Na klar, mein Schejner«, sagt Landsman.

»Rufen Sie bitte nicht meine Frau an.«

»Tu ich nicht«, versichert Landsman ihm, doch da ist der Jid schon wieder weggetreten. Landsman schleppt den Musiker in den hinteren Gang und lässt ihn dort mit einem Telefonbuch als Kopfkissen liegen. Dann geht er zurück zum Tisch und zu Berko Shemets und trinkt einen artigen Schluck aus dem Glas mit kohlengesäuertem Zucker.

»Hmm«, sagt er. »Cola.«

»So«, sagt Berko. »Was für ein Gefallen?«

»Ja«, sagt Landsman. Das wiedererwachende Vertrauen in sich und seine Absichten, das er jetzt spürt, dieses Wohlgefühl, ist eine von einem billigen Schluck Wodka hervorgerufene Illusion. Das wird ihm nun klar, zusammen mit der Erkenntnis, dass aus der Sicht von, sagen wir mal, Gott jegliches menschliches Selbstvertrauen eine Illusion ist und jede Absicht ein Witz. »Einen ziemlich großen.«

Berko weiß, worauf Landsman hinauswill. Aber Landsman ist noch nicht so weit, den Schritt zu tun.

»Du und Ester-Malke«, sagt Landsman. »Ihr habt euch um das Wohnrecht beworben.«

»Ist das deine große Frage?«

»Nein, das ist nur die Einleitung.«

»Wir haben uns um Green Cards beworben. Jeder hier im Distrikt, der nicht nach Kanada oder Argentinien oder wer weiß wohin auswandert, hat sich um das Wohnrecht beworben. Herrgott, Meyer, du etwa nicht?«

»Ich weiß, dass ich es vorhatte«, sagt Landsman. »Vielleicht hab ich’s auch getan. Ich weiß es nicht mehr.«

Das ist zu schockierend für Berko, um es zu verarbeiten, aber es ist nicht das, weswegen Landsman mit ihm hergekommen ist.

»Doch, hab ich«, sagt Landsman. »Jetzt erinnere ich mich. Klar. Hab den I-999 und alles ausgefüllt.«

Berko nickt, als glaube er Landsmans Lüge.

»So«, sagt Landsman. »Ihr wollt also hierbleiben. In Sitka.«

»Vorausgesetzt, wir bekommen Ausweise.«

»Warum solltet ihr nicht?«

»Wegen der Begrenzung. Man sagt, nicht mal vierzig Prozent bekommen einen Ausweis.« Berko schüttelt den Kopf, momentan so ungefähr die nationale Reaktion, wenn das Gespräch auf die Frage kommt, wo andere Juden aus Sitka nach der Reversion hinwollen oder was sie vorhaben. Bisher hat es keine Zusicherungen gegeben — die Zahl von vierzig Prozent ist letztendlich auch nur ein Gerücht —, und es gibt Radikale, die mit wildem Blick behaupten, dass die Zahl der Juden, die nach Inkrafttreten der Reversion tatsächlich die Erlaubnis erhalten werden, als rechtmäßige Bürger im dann vergrößerten Staat Alaska zu leben, eher bei zehn bis fünfzehn Prozent liegen werde. Dieselben Personen laufen umher und rufen auf zu bewaffnetem Widerstand, Sezession, einer Unabhängigkeitserklärung und so weiter. Landsman hat diesen Debatten und Gerüchten um die wichtigste Frage in seinem kleinen Universum nur sehr wenig Beachtung geschenkt.

»Der Alte«, sagt Landsman. »Kann der nichts mehr reißen?«

Vierzig Jahre lang missbrauchte Hertz Shemets — wie Dennis Brennans Serie offenbarte — seine Stellung als Leiter des Überwachungsprogramms des FBI, um sein eigenes Spiel mit den Amerikanern zu treiben. Erstmals warb ihn die Behörde in den Fünfzigern an, um Kommunisten und die jiddische Linke zu bekämpfen, die zwar zerstritten, aber stark, hartgesotten, verbittert und misstrauisch gegenüber den Amerikanern war, und, im Fall der Zionisten, nicht besonders dankbar, in Sitka gelandet zu sein. Hertz Shemets’ Mandat bestand darin, die Roten vor Ort zu überwachen und zu unterwandern. Hertz rottete sie aus. Er verfütterte die Sozialisten an die Kommunisten, die Stalinisten an die Trotzkisten, die hebräischen Zionisten an die jiddischen Zionisten, und als die Fütterung vorbei war, wischte er allen Verbliebenen den Mund ab und verfütterte sie aneinander. Ende der Sechziger wurde Hertz auf die gerade entstehende radikale Bewegung unter den Tlingit losgelassen, und mit der Zeit hatte er auch ihr Zähne und Krallen gezogen.

Doch all diese Tätigkeiten waren, wie Brennan nachwies, nur eine Fassade für Hertz’ wahren Plan: Dem Distrikt den »dauerhaften Status« als jüdische Enklave zu sichern. Das, oder in seinen kühnsten Träumen sogar die staatliche Souveränität. »Schluss mit dem ewigen Wandern«, erinnert sich Landsman, sagte sein Onkel zu seinem Vater, dessen Seele sich bis zum Tag seines Todes eine Spur von romantischem Zionismus bewahrte. »Schluss mit Vertreibungen, mit dem Umherziehen und den Träumen von einer Zukunft im Land der Kamele. Es ist Zeit, dass wir nehmen, was wir bekommen können, und an Ort und Stelle bleiben.«

Jedes Jahr, stellte sich heraus, zweigte Onkel Hertz bis zur Hälfte des ihm zur Verfügung stehenden Budgets ab, um die Personen zu bestechen, von denen er bezahlt wurde. Er kaufte Senatoren und bohrte die Honigtöpfe des Kongresses an, doch vor allem fabulierte er reichen amerikanischen Juden etwas vor, da er ihren Einfluss für ausschlaggebend hielt. Dreimal wurden Gesetzesvorlagen zum dauerhaften Status eingereicht und abgeschmettert, zweimal im Ausschuss, einmal nach erbitterter, kontroverser Debatte erst im Plenum. Ein Jahr nach der Aussprache zog der jetzige Präsident Amerikas erfolgreich mit einer Fahne in den Wahlkampf, auf der die längst überfällige Durchsetzung der Reversion mit dem Slogan »Alaska den Ureinwohnern« versprochen wurde. Und Dennis Brennan scheuchte Hertz unter einen Baumstamm.