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»Der Alte?«, sagt Berko. »Da unten in seinem indianischen Westentaschenreservat? Mit seiner Ziege? Und dem Elchfleisch in der Kühltruhe? Ja, der ist eine wahrhaft graue Eminenz in den Korridoren der Macht. Aber trotzdem, es sieht ganz gut aus.«

»Ja?«

»Ester-Malke und ich haben schon eine dreijährige Arbeitserlaubnis bekommen.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

»Sagt man.«

»Natürlich würdest du nichts tun, das euren Status irgendwie gefährden könnte.«

»Nein.«

»Befehle verweigern. Leute anpissen. Deine Pflicht vernachlässigen.«

»Niemals.«

»Schon gut.« Landsman greift in die Tasche seines Sakkos und holt das Schachspiel hervor. »Hab ich dir mal von dem Zettel erzählt, den mein Vater hinterließ, als er sich umbrachte?«

»Es soll ein Gedicht gewesen sein.«

»Eher ein Knittelvers«, sagt Landsman. »Sechs Zeilen in Jiddisch an eine unbenannte Frau.«

»Oho!«

»Nein, nein. Nichts Schlüpfriges. Es war, nun ja, er drückt darin sein Bedauern, seine Unzulänglichkeit aus. Seinen Verdruss über sein Versagen. Bekennt sich zu Hingabe und Respekt. Berührende Dankesworte für den Trost, den sie ihm spendete, und vor allem für das Vergessen, das ihre Gesellschaft ihm im langen, bitteren Lauf der Jahre schenkte.«

»Du kannst es auswendig.«

»Ja. Aber mir fiel etwas auf, das mich störte. Deshalb zwang ich mich, es zu vergessen.«

»Was fiel dir auf?«

Landsman geht nicht auf die Frage ein, weil Mrs. Kalushiner mit den Eiern kommt, sechs an der Zahl, gepellt und angerichtet auf einem kleinen Teller mit sechs runden Vertiefungen von der Größe eines breiten Eierpopos. Salz. Pfeffer. Ein Glas Senf.

»Wenn man ihm die Leine abnimmt«, sagt Berko und zeigt mit dem Daumen auf Hershel, »dann geht er vielleicht auf ein Sandwich oder so nach draußen.«

»Er mag die Leine«, sagt Mrs. Kalushiner. »Ohne schläft er nicht.«

Sie lässt die beiden erneut allein.

»Das nervt mich«, sagt Berko mit Blick auf Hershel.

»Ich weiß, was du meinst.«

Berko salzt ein Ei und beißt hinein. Seine Zähne hinterlassen Einkerbungen im gekochten Weiß.

»Also, dieses Gedicht«, sagt er. »Dieser Vers.«

»Natürlich ging jeder davon aus«, sagt Landsman, »dass meine Mutter die Adressatin von meines Vaters Strophe war. Zuallererst sie selbst.«

»Die Beschreibung passt auf sie.«

»Der Meinung waren alle. Deshalb habe ich nie jemandem erzählt, was ich entdeckte. In meinem ersten offiziellen Fall als Nachwuchs-Schammes.«

»Nämlich?«

»Nämlich dass sich aus den jeweils ersten Buchstaben der sechs Zeilen ein Name ergibt: Caissa.«

»Caissa? Was ist denn das für ein Name?«

»Ich glaube, das ist Latein«, sagt Landsman. »Caissa ist die Göttin der Schachspieler.«

Er öffnet den Deckel des Taschenschachspiels, das er im Drugstore am Korczak-Platz gekauft hat. Die Figuren stehen noch so wie am Morgen, als er sie in der Wohnung der Taytsh-Shemets’ aufstellte, und wie sie von dem Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, hinterlassen wurden. Oder von seinem Mörder oder von der blassen Caissa, der Göttin der Schachspieler, die vorbeischaute, um wieder einem ihrer unglücklichen Jünger Lebewohl zu sagen. Schwarz hat nur noch drei Bauern, zwei Springer, einen Läufer und einen Turm. Weiß hält noch alle größeren und kleinen Figuren und zwei Bauern, von denen einer kurz vor der Umwandlung steht. Das Ganze wirkt sonderbar ungeordnet, als sei die Partie, die zu diesem Stand führte, sehr chaotisch gewesen.

»Wenn es irgendwas anderes wäre, Berko«, sagt Landsman mit entschuldigender Geste. »Ein Kartenspiel. Ein Kreuzworträtsel. Eine Bingokarte.«

»Ich verstehe«, sagt Berko.

»Aber nein, es musste eine verfluchte unterbrochene Schachpartie sein.«

Berko dreht das Brett herum und betrachtet es eine Weile, dann schaut er zu Landsman auf. Jetzt ist der Moment gekommen, mich zu fragen, sagt er mit seinen großen, dunklen Augen.

»Also, wie gesagt. Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

»Nein«, sagt Berko, »musst du nicht.«

»Du hast die Lady gehört. Du hast gesehen, wie sie den schwarzen Aktenreiter draufgedrückt hat. Die Sache war von Anfang an ein Haufen Scheiße. Bina hat es nur offiziell gemacht.«

»Du siehst das anders.«

»Bitte, Berko, fang jetzt nicht plötzlich an, meine Meinung zu respektieren«, sagt Landsman. »Nicht nachdem ich mich so lange bemüht habe, das zu verhindern.«

Berko hat den Hund zunehmend starr beobachtet, jetzt erhebt er sich abrupt und geht zur Bühne. Er poltert die drei Holzstufen hoch und schaut auf Hershel. Dann hält er ihm die Hand zum Schnüffeln hin. Der Hund setzt sich auf und liest mit der Nase auf Berkos Handrücken die Abschrift von Babys, Waffeln und dem Innenraum eines 1971er Super Sport. Schwerfällig hockt sich Berko neben den Hund und hakt die Leine aus dem Halsband. Er nimmt den Kopf des Hundes in seine großen Hände und blickt in seine unheimlichen Augen.

»Genug schojn«, sagt er. »Er kommt nicht wieder.«

Der Hund blickt Berko an, als interessiere er sich aufrichtig für diese Nachricht. Dann springt er auf alle viere und humpelt zur Treppe, die er vorsichtig herunterstolpert. Mit klackernden Nägeln überquert er den Betonboden zu dem Tisch, an dem Landsman sitzt, und sieht zu ihm auf, als suche er Bestätigung.

»Das ist die reine Emmes, Hershel«, sagt Landsman zum Hund. »Mit Zahnabdrücken bewiesen.«

Der Hund scheint darüber nachzudenken; dann läuft er, zu Landsmans großer Überraschung, zur Eingangstür. Berko schaut Landsman vorwurfsvoll an: Was habe ich dir gesagt? Mit einem kurzen Blick zum Perlenvorhang schiebt er den Riegel zurück, dreht den Schlüssel und öffnet die Tür. Der Hund trottet nach draußen, als habe er etwas Wichtiges zu erledigen.

Berko kehrt mit einer Miene an den Tisch zurück, als hätte er gerade eine Seele vom ewigen Rad des Karma erlöst.

»Du hast gehört, was die Lady gesagt hat. Wir haben noch neun Wochen Zeit«, sagt er. »Mehr oder weniger. Wir können ein, zwei Tage lang so tun, als hätten wir eine Menge zu erledigen, und in der Zeit die Sache mit dem toten Junkie aus deinem Hotel untersuchen.«

»Ihr bekommt ein Kind«, sagt Landsman. »Ihr seid bald zu fünft.«

»Was meinst du damit?«

»Damit meine ich, dass es fünf Taytsh-Shemets sind, denen wir die Tour vermiesen, falls jemand nach Gründen sucht, euch die Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern, wie man immer wieder hört, und falls einer der Gründe eine jüngst erfolgte Vorladung wäre, weil du dich den Anordnungen eines Vorgesetzten widersetzt hast, ganz zu schweigen von einer krassen Missachtung der Abteilungspolitik, wie dämlich und duckmäuserisch sie auch sein mag.«

Berko blinzelt, schiebt sich noch eine eingelegte Tomate in den Mund, kaut und seufzt.

»Ich hatte nie Geschwister«, sagt er. »Nur Cousins und Cousinen. Die meisten waren Indianer und wollten nichts von mir wissen. Zwei waren Juden. Einer von ihnen ist tot — möge ihr Name zum Segen sein. Bleibst nur noch du.«

»Das weiß ich zu schätzen, Berko«, sagt Landsman. »Das sollst du wissen.«

»Fuck that shit«, sagt Berko. »Wir gehen ins Einstein, stimmt’s?«

»Ja«, sagt Landsman. »Ich dachte, da sollten wir anfangen.«

Ehe sie aufstehen oder mit Mrs. Kalushiner abrechnen können, kratzt es an der Tür, dann folgt ein langes, tiefes Stöhnen. Das Geräusch ist menschlich und verzweifelt, Landsman stehen die Nackenhaare zu Berge. Er geht zur Tür und lässt den Hund herein. Der klettert zurück auf die Bühne, an den Platz, wo die Farbe auf den Dielenbrettern bereits fehlt, setzt sich mit gespitzten Ohren hin, um den Klang eines entschwundenen Horns zu erhaschen, und wartet geduldig auf das Einklinken der Leine.