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10.

Das nördliche Ende der Peretz Street besteht aus Betonplatten und Stahlsäulen, aus aluminiumgerahmten Fenstern mit Thermopaneverglasung gegen die Kälte. Die Häuser in diesem Teil der Untershtot wurden in den frühen Fünfzigern errichtet, Schutzräume, von Überlebenden rasch zusammenmontiert, mit einer gewissen noblen Hässlichkeit. Jetzt verbreiten sie nur noch die Hässlichkeit von Alter und Leerstand. Geschlossene Ladenlokale, verklebte Scheiben. Im Schaufenster von Nr. 1911, wo Landsmans Vater an Treffen der Edelshtat-Gesellschaft teilnahm, bevor ein Outlet-Store für Pflegeprodukte einzog, hockt mit sardonischem Grinsen ein Stoffkänguruh und hält ein Pappschild hoch: »Australien oder Pleite«. Das Hotel Einstein mit der Hausnummer 1906 sehe aus, meinte ein Witzbold bei seiner Eröffnung, wie ein Rattenkäfig in einem Aquarium. Es ist in Sitka ein beliebter Schauplatz für Selbstmorde. Traditionell und per Satzung ist es außerdem die Heimat des Einstein-Schachclubs.

Ein Mitglied des Einstein-Schachclubs namens Melekh Gaystik wurde 1980 in St. Petersburg Weltmeister gegen den Holländer Jan Timman. Die Weltausstellung noch frisch in Erinnerung, sahen die Einwohner von Sitka in Gaystiks Triumph einen weiteren Beweis für ihren Verdienst und ihre Identität als Volk. Gaystik neigte zu Wutausbrüchen, düsteren Launen und Anfällen geistiger Verwirrung, aber in der allgemeinen Feierlaune übersah man diese Unzulänglichkeiten.

Eine Folge von Gaystiks Sieg war die Entscheidung des Hotelmanagements, den Ballsaal mietfrei dem Schachclub zu überlassen. Hotelhochzeiten waren aus der Mode gekommen, und das Management versuchte schon länger, die Patzer mit ihrem Gemurmel und Gequalme aus dem Café zu verbannen. Gaystik lieferte der Verwaltung den nötigen Anlass. Die Eingangstüren zum Ballsaal wurden verschlossen, sodass man ihn nur hinten herum, über eine Gasse, betreten konnte. Das feine Eschenparkett wurde herausgerissen, dafür wurde in einem wilden Schachbrettmuster Linoleum in den Farbschlägen von Ruß, Galle und Krankenhausgrün verlegt. Der modernistische Lüster unter der hohen Betondecke wurde durch Reihen von Neonröhren ersetzt. Zwei Monate später spazierte der junge Weltmeister in das alte Café, wo Landsmans Vater einst Eindruck gemacht hatte, setzte sich an einen Tisch weiter hinten, holte einen Colt 38 Detective Special hervor und schoss sich in den Mund. In seiner Tasche war ein Zettel. Darauf stand lediglich: Wie es früher war, hat es mir besser gefallen.

»Emanuel Lasker«, sagt der Russe zu den beiden Polizeibeamten und sieht von seinem Schachbrett neben dem Empfangstisch auf. Eine alte Neonuhr über ihm wirbt für eine ehemalige Zeitung, das Blat. Er ist ein skelettöser Mann mit blättriger, dünner, rosafarbener Haut und einem schwarzen Spitzbart. Seine Augen stehen eng zusammen und haben die Farbe von kaltem Meerwasser. »Emanuel Lasker.« Die Schultern des Russen heben sich, er zieht den Kopf ein, sein Brustkorb schwillt an und fällt wieder zusammen. Es sieht aus, als lache er, doch ist kein Ton zu hören. »Ich wünsche, er kommt hier vorbei.« Wie bei den meisten russischen Immigranten ist sein Jiddisch experimentell und schroff. Er erinnert Landsman an jemanden, ohne dass er sagen könnte, an wen. »Ich gebe ihm so einen Tritt in Arsch.«

»Hast du mal seine Partien gesehen?«, will der Gegner des Russen wissen. Es ist ein junger Mann mit Puddingwangen, rahmenloser Brille und leicht grünlicher Hautfarbe, wie das Weiß einer Dollarnote. Die Gläser seiner Brille vereisen, als er sie auf Landsman richtet. »Haben Sie mal seine Partien gesehen, Detective?«

»Nur um das klarzustellen«, sagt Landsman. »Das ist nicht der Lasker, den wir meinen.«

»Der Mann, den wir suchen, benutzte nur den Namen, wie ein Pseudonym«, sagt Berko. »Sonst würden wir ja einen Mann suchen, der schon seit sechzig Jahren tot ist.«

»Wenn man heute Laskers Partien sieht«, fährt der junge Mann fort. »Sie sind zu komplex. Er macht alles zu schwer.«

»Sind nur komplex für dich, Velvel«, sagt der Russe, »weil du bist so simpel.«

Die beiden Schammes haben die Partie im intensiven Mittelspiel gestört, der Russe hat Weiß und einen unangreifbaren Springer als Außenposten. Die Männer sind in ihr Spiel versunken, so wie zwei Berge in einem Schneesturm versinken. Instinktiv lassen sie die Polizeibeamten die abstrakte Verachtung spüren, mit denen sie allen Kibitzern begegnen. Landsman fragt sich, ob er und Berko warten sollen, bis die beiden fertig sind. Aber es werden noch andere Partien gespielt, andere Spieler sind zu befragen. Im alten Ballsaal kratzen Stuhlbeine über den Boden wie Fingernägel über eine Tafel. Schachfiguren klicken wie die Trommel in Melekh Gaystiks ‚38er. Die Taktik dieser Männer — hier gibt es keine Frauen — ist das stete Tyrannisieren ihrer Gegner durch Selbstverleumdung, eisiges Lachen, Pfeifen und Räuspern.

»Solange das klar ist«, sagt Berko. »Dieser Mann, der sich Emanuel Lasker nannte, aber nicht der 1868 in Preußen geborene berühmte Weltmeister war, ist tot, und wir untersuchen diesen Todesfall. In unserer Eigenschaft als Beamte der Mordkommission, was wir bereits erwähnten, ohne dass es offenbar besonders viel Eindruck gemacht hätte.«

»Ein Jude mit blondes Haar«, sagt der Russe.

»Und Sommersprossen«, sagt Velvel.

»Sehen Sie«, sagt der Russe. »Wir passen gut auf.«

Er schnappt einen seiner Türme, so wie man jemandem ein loses Haar vom Kragen zupft. Seine Finger unternehmen mit dem Turm eine kleine Reise die Reihe entlang und teilen dem letzten schwarzen Läufer mit einem Klopfen die schlechte Nachricht mit.

Velvel wechselt jetzt zu Russisch mit jiddischem Akzent, äußert die besten Wünsche für die Wiederaufnahme der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Mutter seines Gegners und einem gut ausgestatteten Hengst.

»Ich bin Waise«, sagt der Russe.

Er lehnt sich auf seinem Stuhl nach hinten, als gehe er davon aus, dass sein Gegner etwas Zeit benötigt, um sich vom Verlust seines Läufers zu erholen. Er knotet seine Arme um die Brust und klemmt die Hände in die Achselhöhlen. Es ist die Geste eines Mannes, der eine Papiros in einem Raum rauchen möchte, in dem dieses Laster verboten ist. Landsman fragt sich, was sein Vater mit sich selbst angefangen hätte, wenn der Einstein-Schachclub noch zu seinen Lebzeiten das Rauchen untersagt hätte. Der Mann konnte bei einer Partie eine ganze Schachtel Broadways verqualmen.

»Blond«, sagt der Russe, ein Ausbund an Hilfsbereitschaft. »Sommersprossen. Was noch, bitte?«

Landsman überfliegt sein Blatt spärlicher Informationen und versucht zu entscheiden, welche Karte er ausspielen soll.

»Er war Schachspieler, nehmen wir an. Kannte sich aus mit Schachgeschichte. In seinem Zimmer lag ein Buch von Siegbert Tarrasch. Und dann natürlich sein Pseudonym.«

»Wie scharfsinnig«, sagt der Russe, ohne sich die Mühe zu machen, besonders ehrlich zu klingen. »Zwei hochkarätige Schammes.«

Die Bemerkung nagt nicht so sehr an Landsman, als dass sie ihn eine halbe Witzelei näher an die Erinnerung stupst, wer dieser hagere Russe mit der blättrigen Haut ist.

»Früher mal«, fährt Landsman jetzt langsamer fort und tastet, den Russen im Blick, nach dieser Erinnerung, »war der Verstorbene vielleicht ein frommer Jude. Ein Schwarzhut.«

Der Russe zieht seine Hände unter den Armen hervor. Ein wenig beugt er sich auf dem Stuhl vor. Das Eis seiner baltischen Augen scheint plötzlich zu tauen.

»War er heroinsüchtig?« Der Tonfall des Russen ist kaum für eine Frage geeignet, und als Landsman den Einwurf nicht sofort verneint, fügt er hinzu: »Frank.« Er spricht den Namen amerikanisch aus, mit langem stechendem Vokal und einem schattenlosen r. »Oh nein.«

»Frank«, stimmt Velvel zu.