»Hinsetzen«, sagt Berko, ohne sich umzudrehen. Der Junge setzt sich hin.
Ein Krampf zieht Shitnovitzers Eingeweide zusammen; so sieht es zumindest für Landsman aus.
»Schlechtes Masel«, sagt Shitnovitzer schließlich.
»Schlechtes Masel«, wiederholt Landsman und gibt dabei seinen Zweifeln und seiner Enttäuschung Ausdruck.
»Wie ein Mantel. Ein Hut voll schlechtem Masel auf dem Kopf. So viel schlechtes Masel, dass man ihn nicht wollte berühren, nicht wollte atmen dieselbe Luft.«
»Ich habe mal gesehen, wie er fünf Partien gleichzeitig spielte«, bringt Velvel hervor. »Für hundert Dollar. Gewann alle. Dann kotzte er draußen in die Gasse.«
»Bitte, die Herren«, sagt Saltiel Lapidus mit gequälter Stimme. »Wir haben nichts damit zu tun. Wir wissen nichts über diesen Mann. Heroin. In die Gasse kotzen. Bitte, wir sind schon unangenehm berührt genug.«
»Peinlich berührt«, behauptet der Lubawitscher.
»Es tut uns leid«, schließt Lapidus. »Und wir haben nichts zu sagen. Also dürfen wir bitte gehen?«
»Sicher«, sagt Berko. »Entfernen Sie sich. Schreiben Sie uns einfach Ihre Namen und Adressen auf, bevor Sie gehen.«
Er holt sein sogenanntes Notizbuch hervor, ein schweres kleines Papierbündel, zusammengehalten von einer übergroßen Büroklammer. Wann auch immer man hineinsieht, stellt man fest, dass es Visitenkarten, Tidentabellen, Aufgabenlisten, chronologische Verzeichnisse aller englischen Könige, um drei Uhr morgens hingekritzelte Theorien, Fünfdollarnoten, hastig notierte Rezepte enthält oder gefaltete Servietten mit der Skizze einer Gasse in Süd-Sitka, wo eine Nutte ermordet wurde. Berko blättert durch sein Notizbuch, bis er einen leeren Karteikartenschnipsel findet, den er Fishkin reicht, dem Lubawitscher. Er hält ihm seinen Bleistiftstummel hin, aber, nein danke, Fishkin hat einen eigenen Stift. Er notiert seinen Namen und seine Adresse und die Nummer seines Shoyfer, dann gibt er die Karte an Lapidus weiter, der es ihm nachtut.
»Bloß«, sagt Fishkin, »rufen Sie uns nicht an. Kommen Sie nicht zu uns nach Hause. Ich bitte Sie darum. Wir haben nichts zu sagen. Es gibt nichts über diesen Juden, das wir Ihnen erzählen könnten.«
Jeder Nos im Distrikt lernt, das Schweigen der Schwarzhüte zu respektieren. Es ist eine Weigerung, die sich ausbreiten, anhäufen und vertiefen kann, bis sie wie ein Nebel über einer gesamten Schwarzhutgegend liegt. Schwarzhüte verfügen über sachkundige Anwälte, politischen Einfluss und großmäulige Zeitungen, und sie können einen glücklosen Inspector und selbst den Polizeichef in einen gewaltigen Schwarzhut-Gestank einhüllen, der so lange haftet, bis der Zeuge oder der Verdächtige auf freien Fuß gesetzt und die Anklage fallengelassen wird. Landsman müsste schon die volle Unterstützung seiner Abteilung hinter sich haben oder zumindest die Genehmigung seines Vorgesetzten, um Lapidus und Fishkin auf den heißen Stuhl im Modul der Mordkommission zu laden.
Er riskiert einen Blick hinüber zu Berko, und Berko riskiert ein schwaches Kopfschütteln.
»Gehen Sie«, sagt Landsman.
Wie ein von seinen Eingeweiden besiegter Mann richtet Lapidus sich wankend auf. Den Mantel und die Überschuhe anzuziehen, bringt er mit zur Schau gestellter angeschlagener Würde über die Bühne. Den Eisendeckel von Hut senkt er zentimeterweise auf seinen Kopf, so wie man eine Schachtabdeckung herunterlässt. Mit betrübtem Blick sieht er zu, wie Fishkin die ungespielten Eröffnungen dieses Morgens in ein Holzkästchen wischt. Seite an Seite schlängeln sich die Schwarzhüte zwischen den Tischen hindurch, vorbei an den anderen Spielern, die kurz aufsehen. An der Tür knickt das linke Bein von Saltiel Lapidus ein. Er sackt zur Seite und streckt die Hand aus, um sich an der Schulter seines Freundes festzuhalten. Der Boden unter seinen Füßen ist glatt und nackt. So weit Landsman sehen kann, gibt es nichts, an dem sein Schuh hätte hängenbleiben können.
»Ich habe noch nie einen so traurigen Bobover gesehen«, stellt er fest. »Der Jude hatte Tränen in den Augen.«
»Willst du ihm noch ein bisschen zusetzen?«
»Nur ein, zwei Zentimeter.«
»Weiter kommst du bei denen eh nicht«, sagt Berko.
Sie eilen an den Patzern vorbei: an einem schäbigen Geiger aus dem Sitka Odeon, einem Fußpfleger, dessen Konterfei auf Busbänken klebt. Berko stürmt hinter Lapidus und Fishkin durch die Tür. Landsman will ihm folgen, doch da zupft etwas Wehmütiges an seinem Gedächtnis, der Hauch einer Rasierwassermarke, die niemand mehr benutzt, der plärrende Refrain eines Lieds, das in einem August vor fünfundzwanzig Sommern eine bescheidene Berühmtheit erlangte. Landsman schaut zum Tisch, der der Tür am nächsten ist.
Zusammengeballt wie eine Faust sitzt dort ein alter Mann vor einem Schachbrett und blickt auf einen leeren Stuhl. Er hat alle Figuren auf ihre Ausgangspositionen gestellt und Weiß gewählt oder sich selbst zugewiesen. Wartet auf das Auftauchen seines Gegners. Ein glänzender Schädel, umrahmt von gräulichen Haarbüscheln, wie Taschenfussel. Der untere Teil seines Gesichts ist durch den gesenkten Kopf verborgen. Sichtbar für Landsman sind allein seine hohlen Schläfen, der Heiligenschein aus Haarschuppen, der knochige Nasenrücken, die Furchen auf seiner Stirn wie das Muster, das Gabelzinken in einem Kuchenteig hinterlassen. Und die zornig hochgezogenen Schultern, die das Problem auf dem Schachbrett begreifen, eine brillante Schlacht planen. Es waren einmal breite Schultern, die Schultern eines Helden oder Klavierträgers.
»Mr. Litvak«, sagt Landsman.
Litvak wählt den Springer seines Königs, so wie ein Maler einen Pinsel aussucht. Seine Hände sind noch immer wendig und sehnig. Er vollführt einen geschwungenen Zug zur Mitte des Bretts; schon immer bevorzugte er die hypermoderne Spielweise. Beim Anblick von Litvaks Händen und der Réti-Eröffnung wird Landsman von seiner alten Angst vor Schach überwältigt, ja fast umgeworfen, von der Monotonie, der Gereiztheit, der Schande jener Tage, die er damit verbrachte, am Schachbrett im Café Einstein das Herz seines Vaters zu brechen.
Lauter sagt er: »Alter Litvak!«
Litvak blickt auf, kurzsichtig und verwirrt. Er war der Mann für einen Faustkampf, er war eine Walze, ein Jäger, ein Fischer, ein Soldat. Wenn er nach einer Schachfigur griff, sah man seinen dicken goldenen Ranger-Ring von der Armee aufblitzen. Jetzt wirkt Litvak geschrumpft, erschöpft, ein Märchenkönig, vom Fluch des ewigen Lebens verwandelt zu einer Grille in der Kaminasche. Allein die geschwungene Nase ist als Testament der ehemaligen Erhabenheit seines Gesichts geblieben. Beim Anblick dieses Wracks von Mann kommt Landsman der Gedanke, dass sein Vater aller Wahrscheinlichkeit nach inzwischen ohnehin tot wäre, wenn er sich nicht das Leben genommen hätte.
Litvak macht eine ungeduldige oder auffordernde Geste. Aus seiner Brusttasche zieht er einen marmorierten schwarzen Block und einen dicken Füller. Sein Bart ist so sauber gestutzt wie immer. Ein Hahnentrittsakko, Bootsschuhe mit Quasten, ein Einstecktuch, ein durch die Aufschläge gezogenes Band. Der Mann hat seine Sportlichkeit nicht verloren. In den Falten seines Halses entdeckt Landsman eine glänzende Narbe, ein weißliches, leicht ins Rosa spielendes Komma. Als Litvak mit seinem dicken Waterman in den Block schreibt, kommt sein Atem in geduldigen kleinen Windstößen durch die große, fleischige Nase. Das Kratzen der Feder ist alles, was ihm als Stimme geblieben ist. Er reicht Landsman den Block. Seine Schrift ist gleichmäßig und sauber.
Kenne ich Sie
Sein Blick wird schärfer, er legt den Kopf zur Seite, schätzt Landsman ab, liest in seinem zerknitterten Anzug, seinem runden Filzhut, seinem dem Hund Hershel ähnlichen Gesicht, kennt Landsman, ohne ihn zu erkennen. Er nimmt den Block zurück und hängt ein Wort an seine Frage.
Kenne ich Sie Detective