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»Meyer Landsman«, sagt Landsman und reicht dem Alten eine Visitenkarte. »Sie kannten meinen Vater. Ich kam von Zeit zu Zeit mit ihm her. Als der Club noch im Café war.«

Die rot geränderten Augen weiten sich. Mr. Litvak vertieft seine Landsman-Studie, sucht nach einem Beweis für diese unglaubliche Behauptung. Verwunderung mischt sich mit Schrecken. Er schlägt eine neue Seite seines kleinen schwarzen Blocks auf und verkündet seinen Befund in der zur Diskussion stehenden Angelegenheit.

Unmöglich Auf gar keinen Fall kann Meyerle Landsman so ein dummer alter Zwiebelsack sein

»Leider doch«, sagt Landsman.

Was machst du hier furchtbarer Schachspieler

»Ich war doch noch ein Kind«, sagt Landsman und erschrickt über das knirschende Selbstmitleid in seiner Stimme. Was für ein schrecklicher Ort, was für ein elender Mensch, was für ein grausames, sinnloses Spiel. »Mr. Litvak, Sie kennen nicht zufällig jemanden, der hier manchmal spielt, so nehme ich an, einen Juden, der vielleicht Frank genannt wird?«

Ja den kenne ich hat er was angestellt

»Wie gut kennen Sie ihn?«

Nicht so gut wie ich gerne würde

»Wissen Sie, wo er wohnt, Mr. Litvak? Haben Sie ihn kürzlich gesehen?«

Ist Monate her sag bitte nicht du bist von der Mordkomm.

»Nochmals«, sagt Landsman, »leider doch.«

Der alte Mann blinzelt. Sollte er schockiert oder betrübt über seine Rückschlüsse sein, so ist es nicht an seinem Gesicht oder seiner Körpersprache abzulesen. Doch andererseits würde ein Mann, der seine Gefühle nicht im Griff hat, mit der Réti-Eröffnung nicht allzu weit kommen. Vielleicht ist das Wort, das er als Nächstes in seinen Block schreibt, ein klein wenig verwackelt.

Überdosis?

»Erschossen«, sagt Landsman.

Die Tür des Schachclubs öffnet sich krächzend, und zwei grau und kalt wirkende Patzer kommen herein. Der eine ist eine zwanzig Jahre alte, hagere Vogelscheuche mit einem gestutzten goldenen Bart und einem zu klein geratenen Anzug, der andere ein kleiner rundlicher Kerl, dunkel und lockenbärtig, in einem viel zu großen Anzug. Sie haben einen ungleichmäßigen Bürstenschnitt, wie selbstverstümmelt, und tragen kleine, schwarze, gehäkelte Jarmulkes. Kurz zögern sie auf der Schwelle, beschämt, und schauen Mr. Litvak an, als erwarteten sie eine Standpauke.

Da spricht der alte Mann, er saugt die Worte ein, seine Stimme der Geist eines Dinosauriers. Es ist ein furchtbares Geräusch, eine Fehlfunktion der Luftröhre. Kurz nachdem es verklungen ist, wird Landsman klar, was er gesagt hat: »Meine Großneffen.«

Litvak winkt sie herbei und reicht Landsmans Visitenkarte an den Untersetzten weiter.

»Freut mich, Detective«, sagt der Untersetzte mit leichtem Akzent, vielleicht Australisch. Er nimmt einen freien Stuhl, wirft einen Blick aufs Schachbrett und setzt fachkundig seinen Königsspringer, »’tschuldigung, Onkel Alter. Der da kam wieder zu spät, wie immer.«

Der Magere hängt zurück, die Hand an der offenen Tür des Clubs.

»Landsman!«, ruft Berko aus der Gasse, wo er Fishkin und Lapidus zwischen den Müllcontainern eingefangen hat. Für Landsman sieht es aus, als heule Lapidus wie ein kleines Kind. »Was ist los, Mann?«

»Komme schon«, sagt Landsman. »Ich muss gehen, Mr. Litvak.« Kurz berührt er Knochen, Horn und Leder der alten Hand. »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich nochmal mit Ihnen sprechen muss?«

Litvak notiert eine Adresse und reißt das Blatt aus dem Block.

»Madagaskar?«, sagt Landsman und liest den Namen einer unvorstellbaren Straße in Tananarive. »Das ist mal was Neues.« Beim Anblick der fernen Adresse, beim Gedanken an das Haus in der Rue Jean Bart verspürt Landsman seinen deutlich schwindenden Willen, die Sache mit dem toten Jid aus 208 noch länger zu verfolgen. Was macht es schon für einen Unterschied, ob er den Mörder fasst? In einem Jahr werden Juden Afrikaner sein und dieser alte Ballsaal wird voll mit tanzenden Nichtjuden sein und jeder Fall, der je von Polizisten in Sitka aufgenommen oder abgeschlossen wurde, wird in Schrank 9 abgelegt sein. »Wann brechen Sie auf?«

»Nächste Woche«, sagt der untersetzte Großneffe, und es klingt etwas zweifelnd.

Der alte Mann stößt noch ein grässliches reptilisches Krächzen aus, das jedoch niemand versteht. Er schreibt und schiebt den Block seinem Großneffen zu.

»Der Mensch plant«, liest der junge Mann vor, »und Gott lacht.«

11.

Wenn jüngere Schwarzhüte von der Polizei gefasst werden, geben sie sich gern großspurig und aufsässig und pochen auf ihre Rechte als amerikanische Staatsbürger. Und manche brechen weinend zusammen. Nach Landsmans Erfahrung neigen besonders jene Männer zum Weinen, die lange Zeit mit einem Gefühl von Rechtschaffenheit und Sicherheit gelebt haben und dann erkennen müssen, dass der Abgrund die ganze Zeit direkt vor ihren Füßen gähnte. Es ist Teil seiner Aufgabe als Polizist, den hübschen Teppich zur Seite zu ziehen, der das tiefe, zerklüftete Loch im Boden verbirgt. Landsman fragt sich, ob das auf Saltiel Lapidus zutrifft. Tränen strömen ihm über die Wangen. Ein schimmernder Schleimfaden baumelt an seinem rechten Nasenloch.

»Mr. Lapidus ist ein wenig traurig«, sagt Berko. »Aber er will nicht sagen, warum.«

Landsman tastet in seiner Manteltasche nach einer Packung Papiertaschentücher und findet ein Tuch — Wunder über Wunder. Lapidus zögert, aber nimmt es dann und schnupft sich gefühlvoll die Nase.

»Ich schwöre Ihnen, Detective, ich kannte den Mann nicht«, sagt Lapidus. »Ich weiß nicht, wo er wohnte oder wer er war. Ich weiß gar nichts. Das schwöre ich bei meinem Leben. Wir haben ein paar Mal zusammen Schach gespielt. Er hat immer gewonnen.«

»Sie trauern also nur der Menschlichkeit wegen«, sagt Landsman und versucht, nicht ironisch zu klingen.

»Ganz genau«, sagt Lapidus, dann zerknüllt er das Tuch in seiner Faust und wirft die zerdrückte Blume in den Rinnstein.

»Wollen Sie uns mitnehmen?«, will Fishkin wissen. »Wenn ja, will ich einen Anwalt sprechen. Wenn nicht, müssen Sie uns gehen lassen.«

»Ein Anwalt der Schwarzhüte«, sagt Berko. Es ist eher ein Stöhnen oder ein an Landsman gerichtetes Flehen. »Wehe mir.«

»Dann verdrückt euch«, sagt Landsman.

Berko nickt ihnen zu. Die beiden Männer knirschen durch den schmutzigen Matsch der Gasse davon.

»So, nu, ich bin irritiert«, sagt Berko. »Ich muss zugeben, dass mich das hier langsam irritiert.«

Landsman nickt und kratzt an den Barthaaren am Kinn, als ziehe er logische Schlussfolgerungen, aber sein Herz und sein Kopf hängen noch an Schachpartien, verloren gegen Männer, die schon vor dreißig Jahren alt waren.

»Hast du den Alten da drin gesehen?«, fragt er. »Neben der Tür? Alter Litvak. Hängt seit Jahren im Einstein herum. Hat früher gegen meinen Vater gespielt. Gegen deinen auch.«

»Der Name sagt mir was.« Berko schaut sich zur stählernen Brandschutztür um, dem grandiosen Eingang des Einstein-Clubs. »Kriegsheld. Kuba.«

»Der Mann hat keine Stimme mehr, er muss alles aufschreiben. Ich habe ihn gefragt, wo ich ihn finden kann, falls ich noch mal mit ihm sprechen will, und er hat geschrieben, er würde nach Madagaskar gehen.«

»Das ist mal was Neues.«

»Habe ich auch gesagt.«

»Kannte er unseren Frank?«

»Nicht sehr gut, meinte er.«

»Niemand kannte unseren Frank«, sagt Berko. »Aber alle sind traurig, dass er tot ist.« Er knöpft den Mantel über seinem Bauch zu, stellt den Kragen auf und drückt den Hut tiefer in die Stirn. »Selbst du.«

»Fuck you«, sagt Landsman. »Der Jid bedeutet mir nichts.«

»Vielleicht war er Russe? Das könnte das Schachspielen erklären. Und das Verhalten von deinem Kumpel Vassily. Vielleicht steckt Lebed oder Moskowits hinter dem Mord.«