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Der Grenz-Mejwen ist klein, zerbrechlich und schrägschultrig, vielleicht um die fünfundsiebzig, sieht aber zehn Jahre älter aus. Er hat zu langes, scheckiges aschgraues Haar, eingefallene dunkle Augen und blasse Haut mit einem gelblichen Stich wie ein Sellerieherz. Er trägt eine Strickjacke mit Reißverschluss und Kragenaufschlägen und ein Paar alter dunkelblauer Plastiksandalen, darin weiße Socken mit einem Loch für den linken großen Zeh und sein Horn. Auf seiner Fischgräthose sind Flecken von Eigelb, Säure, Teer, Epoxyleim, Siegellack, grüner Farbe und Mastodonblut. Das Gesicht des Mejwens ist hager, besteht fast nur aus Nase und Kinn, es dient allein dem Wahrnehmen, Sondieren und Vorstoßen in Lücken, Breschen, Vergehen. Sein voller, aschener Bart flattert im Wind wie Vogelflaum an einem Stacheldraht. In hundert Jahren Hilflosigkeit wäre es das letzte Gesicht, an das sich Landsman auf der Suche nach Beistand oder Information je wenden würde, aber Berko weiß mehr über das Leben der Schwarzhüte, als Landsman je erfahren wird.

Neben Zimbalist steht vor der geschwungenen Werkstatttür ein bartloser Jungmann mit einem Regenschirm, damit dem alten Knacker kein Schnee auf den Kopf fällt. Die schwarze Kruste vom Hut des Jungen ist schon mit einem halben Zentimeter Puderzucker bestäubt. Zimbalist behandelt seinen Helfer wie eine Topfpflanze.

»Fetter denn je«, sagt er zur Begrüßung, als Berko auf ihn zustolziert. In seinem Gang vibriert noch der Geist des schweren Kriegsbeils. »So groß wie ein Sofa.«

»Professor Zimbalist«, sagt Berko und schwingt den unsichtbaren Hammer. »Sie sehen aus wie etwas, das aus einem vollen Staubsaugerbeutel gefallen ist.«

»Acht Jahre haben Sie mich in Ruhe gelassen.«

»Ja, ich dachte, Sie brauchten mal eine Pause.«

»Das ist schön. Nur schade, dass jeder andere Jude auf dieser verfluchten Kartoffelschale von Distrikt mir den ganzen Tag auf den Teekessel hackt.« Er wendet sich an den Jungen mit dem Schirm. »Tee. Gläser. Marmelade.«

Murmelnd zitiert der Jungmann auf Aramäisch einen Merksatz über absoluten Gehorsam aus dem Traktat über die Hierarchie von Hunden, Katzen und Mäusen, öffnet die Tür des Grenz-Mejwens, und sie treten ein. Es ist ein großer, hallender Raum, theoretisch unterteilt in Garage, Werkstatt und ein Büro, das mit stählernen Aktenschränken, gerahmten Zeugnissen und den schwarzen Buchrücken des endlosen, bodenlosen Gesetzes gesäumt ist. Die großen Rolltore sind da, um die Wagen ein- und ausfahren zu lassen. Drei Wagen, nach dem Trio von Ölflecken auf dem glatten Betonboden zu urteilen.

Landsman wird bezahlt — und lebt —, um aufzudecken, was normalen Menschen entgeht, doch jetzt scheint ihm, dass er bis zu diesem Moment, da er die Werkstatt des Grenz-Mejwens Zimbalist betritt, nicht genug auf Schnüre geachtet hat. Schnüre, Fäden, Seile, Kordeln, Bänder, Fasern, Taue, Trossen und Kabel; Polypropylen, Hanf, Gummi, gummiertes Kupfer, Kevlar, Stahl, Seide, Flachs, geflochtener Samt. Der Grenz-Mejwen kennt große Teile des Talmuds auswendig. Topographie, Geographie, Geodäsie, Geometrie, Trigonometrie, das ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, als ziele er über den Lauf eines Gewehrs. Doch das A und O für den Grenz-Mejwen ist die Qualität seiner Schnüre. Die meisten — man kann sie in Meilen, in Werst oder wie der Grenz-Mejwen in Händen messen — sind säuberlich auf Spulen gewickelt, die an der Decke hängen oder ordentlich der Größe nach geordnet auf Metallspindeln ruhen. Aber viele liegen einfach herum, in Haufen und Knäueln. Wie Steppenhexen werden Gesträuch, Gewölle und große dornige Elfenknoten aus Draht und Schnur durch die Werkstatt geweht.

»Professor, das ist mein Kollege, Detective Landsman«, sagt Berko. »Wenn Sie einen brauchen, der Ihnen auf den Teekessel hackt, sagen Sie mir Bescheid.«

»Eine Nervensäge, so wie Sie?«

»Ich sag lieber nichts.«

Landsman und der Professor geben sich die Hand.

»Den kenne ich«, sagt der Grenz-Mejwen und kommt näher, um Landsman besser betrachten zu können. Er mustert ihn blinzelnd, als sei Landsman eine seiner zehntausend Landkarten. »Der hat den verrückten Podolsky geschnappt. Der hat Hyman Tshamy hinter Schloss und Riegel gebracht.«

Landsman erstarrt und klappt die Spiegelfolie seines Visiers herunter, gefasst auf eine Standpauke. Hyman Tshamy, ein Verbover Dollarwäscher mit einer Videothekenkette, beauftragte zwei philippinische Schlosser — Auftragsmörder —, ein vertracktes Geschäft für ihn zu zementieren. Doch Landsmans bester Informant ist Benito Taganes, der König der chinesischen Donuts nach Filipinoart. Benitos Informationen führten Landsman zu dem Lokal am Flughafen, wo die glücklosen Schlosser auf ein Flugzeug warteten, und ihre Zeugenaussagen brachten Tshamy trotz der Höchstleistungen des reißfestesten Anwalts-Kevlars, das für Verbover Geld zu bekommen war, hinter Gitter. Hyman Tshamy ist der bisher einzige Verbover im Distrikt, der je eines Verbrechens überführt und dafür verurteilt wurde.

»Guck dir den an!« Der untere Teil von Zimbalists Gesicht reißt auf. Seine Zähne gleichen den Pfeifen einer aus Knochen geschnitzten Orgel. Sein Lachen klingt, als würde eine Handvoll rostiger Gabeln und Nägel zu Boden fallen. »Er glaubt, ich mache mir was aus diesen Leuten, mögen ihre Lenden so verdorren wie ihre Seelen.« Der Mejwen hört auf zu lachen. »Wie, haben Sie gedacht, ich gehöre dazu?«

Landsman findet, das ist die tödlichste Frage, die ihm je gestellt wurde.

»Nein, Professor«, sagt er. Dabei bezweifelte Landsman sogar, dass Zimbalist tatsächlich ein Professor ist, aber in seinem Büro hängen über dem Kopf des mit dem elektrischen Wasserkessel kämpfenden Jungmannes die gerahmten Zeugnisse und Zertifikate der Jeschiwa von Warschau (1939), der Freien Polnischen Staatsuniversität (1950) und des Bronfman Manual and Technical (1955). Ebenso Empfehlungen, Haskomes und Affidavits, jeweils in nüchternen schwarzen Rahmen, scheinbar von jedem Rabbi im Distrikt, von unbedeutend bis einflussreich, von Yakovy bis Sitka. Demonstrativ mustert Landsman Zimbalist von oben bis unten, doch man sieht allein schon an der großen, mit silbernem Faden bestickten Jarmulke, die das Ekzem auf seinem Hinterkopf bedeckt, dass der Grenz-Mejwen kein Verbover ist. »Den Fehler würde ich nicht machen.«

»Nein? Würden Sie denn eine von denen heiraten, so wie ich, würden Sie den Fehler machen?«

»Wenn es ums Heiraten geht, lass ich gerne die anderen Fehler machen«, sagt Landsman. »Meine Exfrau zum Beispiel.«

Zimbalist winkt seine Besucher zu sich, vorbei an dem robusten Eichentisch zu zwei kaputten Stühlen neben einem gewaltigen Rollpult. Der Jungmann geht ihm nicht schnell genug aus dem Weg, der Grenz-Mejwen packt ihn am Ohr.

»Was machst du da?« Er greift nach der Hand des Jungen. »Sieh dir diese Fingernägel an! Feh!« Er lässt die Hand fallen wie verdorbenen Fisch. »Los, raus hier, setz dich ans Funkgerät! Finde heraus, wo diese Idioten sind und warum sie so lange brauchen!«

Zimbalist gießt Wasser in eine Kanne und wirft eine Faustvoll Teeblätter hinein, die verdächtig nach zerhackter Schnur aussehen.

»Einen Eruw allein müssen sie mir patrouillieren. Einen! Ich habe zwölf Männer, die für mich arbeiten, und nicht einer von ihnen hätte auf Anhieb Erfolg, wenn er seine Zehen am Ende seiner Socken suchen müsste.«

Landsman hat sich wirklich bemüht zu vermeiden, Konzepte wie das des Eruw zu verstehen, aber er weiß, dass es sich dabei um das typisch jüdische Umgehen einer Vorschrift handelt, um einen Trick, mit dem man Gott täuscht, diesen allwissenden Drecksack. Es hat etwas damit zu tun, dass Telefonmasten als Türpfosten ausgegeben werden und die Drähte als Stürze dienen. Mit Hilfe von Masten und Drähten kann man einen Bereich absperren, ihn zum Eruw erklären und dann am Sabbat so tun, als sei der selbst geschaffene Eruw — im Fall von Zimbalist und seiner Mannschaft wohl der gesamte Distrikt — das eigene Haus. So kann man das Sabbatverbot umgehen, an öffentlichen Orten etwas zu tragen, und kann mit zwei Alka-Seltzer in der Tasche sonntags zu Schul gehen, ohne dass es eine Sünde ist. Mit ausreichend Draht und Masten kann man unter kreativer Zuhilfenahme bestehender Mauern, Zäune, Klippen und Flüsse einen Kreis um so gut wie alles ziehen und das Gebiet zum Eruw erklären.