Aber irgendjemand muss diese Grenzen festlegen, muss das Gelände vermessen, die Masten und Drähte instand halten und die Unversehrtheit der vorgeblichen Mauern und Türen angesichts von Wetter, Vandalismus, Bären und der Telefongesellschaft garantieren. Dazu braucht man den Grenz-Mejwen. Er hat den gesamten Mast- und Drahtmarkt in der Hand. Die Verbover waren die Ersten, die seinen Dienst in Anspruch nahmen, und als sie mit ihren Muskeln hinter ihm standen, gingen nacheinander die Satmarer, die Bobover, die Lubawitscher, die Gerrer und all die anderen Schwarzhutsekten dazu über, sich auf Zimbalists Dienste und sein Fachwissen zu verlassen. Wenn sich die Frage stellt, ob ein bestimmter Abschnitt eines Bürgersteigs, Seeufers oder offenen Feldes in einem Eruw liegt, berufen sich alle Rabbis auf Zimbalist, auch wenn er selbst keiner ist. An seinen Landkarten, seiner Mannschaft und seinen Polypropylenspulen hängt das Seelenheil jedes gläubigen Juden im Distrikt. Nach dem, was man hört, ist er der mächtigste Jude der Stadt. Und deshalb darf er hinter seinem schweren Eichentisch mit den zweiundsiebzig Fächern mitten auf Verbov Island sitzen und ein Glas Tee mit dem Mann trinken, der Hyman Tsharny am Schlafittchen packte.
»Was ist mit Ihnen?«, sagt er zu Berko und lässt sich mit gummiartigem Quietschen auf ein aufblasbares Donut-Kissen fallen. Von einer Zigarettenklammer auf dem Schreibtisch nimmt er eine Schachtel Broadways. »Warum laufen Sie hier rum und machen allen Angst mit diesem Kriegsbeil?«
»Mein Kollege war enttäuscht von der Begrüßung hier«, sagt Berko.
»Es mangelte ihr am Geist des Sabbats«, sagt Landsman und zündet sich selbst eine Papiros an. »Fand ich.«
Zimbalist schiebt einen dreieckigen Kupferaschenbecher über den Tisch. Seitlich steht darauf »Krasny’s Tabak- und Schreibwaren«, und genau dort holte sich Isidor Landsman seine monatliche Ausgabe der Chess Review. Krasny mit seiner Leihbücherei, seinem enzyklopädischen Humidor und dem jährlichen Lyrikpreis wurde schon Vorjahren von amerikanischen Ladenketten verdrängt, und beim Anblick dieses netten Aschenbechers gibt die Quetschkommode von Landsmans Herz ein nostalgisches Schnaufen von sich.
»Zwei Jahre meines Lebens habe ich diesen Leuten geschenkt«, sagt Berko. »Man sollte meinen, es würde sich einer an mich erinnern. Bin ich so leicht zu vergessen?«
»Ich sag Ihnen mal was, Detective.« Mit einem erneuten Quietschen des Gummidonuts steht Zimbalist wieder auf und schenkt Tee in drei verschmierte Gläser. »So, wie die sich hier fortpflanzen, sind die Leute, die Sie heute auf der Straße gesehen haben, nicht mehr dieselben wie vor acht Jahren, sondern deren Enkelkinder. Heute kommen sie schon schwanger zur Welt.«
Er reicht jedem von ihnen ein dampfendes Glas, zu heiß zum Festhalten. Es verbrennt Landsmans Fingerspitzen. Die Flüssigkeit riecht nach Gras, Hagebutte und nur ein klein bisschen nach Schnur.
»Die machen immer mehr Juden«, sagt Berko und rührt einen Löffel Marmelade in sein Glas. »Aber keiner schafft Platz, wo sie hinkönnen.«
»Das ist die Wahrheit«, sagt Zimbalist, und sein knochiger Hintern sackt in den Donut. Er verzieht das Gesicht. »Seltsame Zeiten für Juden.«
»Nur hier scheinbar nicht«, sagt Landsman. »Auf Verbov Island geht das Leben seinen gewohnten Gang. In jeder Einfahrt ein gestohlener BMW und in jedem Topf ein sprechendes Huhn.«
»Die Leute hier machen sich erst Sorgen, wenn der Rebbe es ihnen sagt«, erklärt Zimbalist.
»Vielleicht müssen sie sich um gar nichts sorgen«, sagt Berko. »Vielleicht hat sich der Rebbe schon um das Problem gekümmert.«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Das glaube ich keine Sekunde lang.«
»Dann lassen Sie es halt.«
Eines der Garagentore gleitet auf den Rollen zur Seite, und ein weißer Van fährt herein, eine helle Schneemaske auf der Windschutzscheibe. Vier Männer in gelben Overalls drängen heraus, sie haben rote Nasen, und ihre Bärte sind mit schwarzen Netzen hochgebunden. Sie schnauzen sich und stapfen mit den Füßen, und Zimbalist muss hinübergehen und sie ein bisschen zusammenfalten. Es stellt sich heraus, dass es ein Problem in der Nähe des Staubeckens im Scholem-Alejchem-Park gab, irgendein Idiot von der Gemeindeverwaltung hat eine Wand zum Squashspielen aufgestellt, mitten in einen vorgeblichen Türrahmen zwischen zwei Straßenlaternen. Alle wandern hinüber zum Kartentisch in der Mitte des Büros. Während Zimbalist die betreffende Landkarte hinlegt und ausrollt, nicken seine Mitarbeiter nacheinander Landsman und Berko zu und spannen ihre bösen Muskeln an. Danach werden die beiden von Zimbalists Mannschaft einfach ignoriert. Zwei Schammes sind eine imaginäre Brise, die an ihnen vorbeiweht.
»Angeblich hat der Mejwen eine Landkarte für jede Stadt, wo jemals zehn Juden zusammengehockt haben«, sagt Berko zu Landsman. »Bis zurück nach Jericho.«
»Das Gerücht habe ich selbst in die Welt gesetzt«, sagt Zimbalist, den Blick auf die Karte gerichtet. Er findet die betroffene Stelle, und einer seiner Mitarbeiter zeichnet die Squashwand mit einem Bleistiftstummel ein. Rasch ersinnt Zimbalist eine Notlösung, die bis zum Sonnenuntergang am nächsten Tag halten muss, eine Ausbuchtung in der großen imaginären Mauer des Eruw. Er schickt seine Jungs zurück nach Harkavy, um Plastikleitungen an zwei nahe Telefonmasten zu spannen, damit die Satmarer, die östlich des Scholem-Alejchem-Parks wohnen, mit ihren Hunden Gassi gehen können, ohne ihre Seelen zu gefährden.
»Tut mir leid«, sagt er und kommt wieder um den Tisch herum. Er zuckt zusammen. »Ich habe nicht mehr viel Freude am Sitzen. Nun, was kann ich für euch tun? Ich bezweifle doch stark, dass ihr mit einer Frage über Reschus harabbim hergekommen seid.«
»Wir arbeiten an einem Mordfall, Professor Zimbalist«, sagt Landsman. »Und wir haben Grund zu der Annahme, dass der Tote ein Verbover gewesen ist oder Verbindungen zu den Verbovern hatte, zumindest früher einmal.«
»Verbindungen«, sagt der Mejwen und zeigt wieder seine Orgelpfeifenstalaktiten. »Ich denke, damit kenne ich mich aus.«
»Er wohnte unter dem Namen Emanuel Lasker in einem Hotel auf der Max Nordau Street.«
»Lasker? Wie der Schachspieler?« Eine Falte bildet sich im Pergament von Zimbalists gelber Stirn, und tief in seinen Augenhöhlen kratzt Feuerstein über Stahclass="underline" Erstaunen, Überraschung, ein Erinnerungszündholz. »Ich habe das Spiel mal betrieben«, erklärt er. »Vor langer Zeit.«
»Ich auch«, sagt Landsman. »So wie unser Toter, bis zu seinem Ende. Neben seiner Leiche fanden wir ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren. Er las Siegbert Tarrasch. Und er kannte die Stammgäste im Schachclub Einstein. Dort kannte man ihn unter dem Namen Frank.«
»Frank«, wiederholt der Grenz-Mejwen mit einem Yankeenäseln. »Frank, Frank, Frank. War das sein Vorname? Als Nachname ist er geläufig bei Juden, aber als Vorname, nein. Wisst ihr mit Sicherheit, dass er Jude war, dieser Frank?«
Berko und Landsman tauschen einen schnellen Blick aus. Mit Sicherheit wissen sie gar nichts. Die Tefillin im Nachtschrank könnten dort als Warnung deponiert worden sein oder vergessen von einem früheren Bewohner von Raum 208. Niemand im Einstein-Club behauptete, den toten Junkie Frank in der Synagoge gesehen zu haben, sich wiegend im Stehgebet.
»Wir haben Grund zu der Annahme«, wiederholt Berko langsam, »dass der Mann früher ein Verbover Jude war.«