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»Was für einen Grund?«

»Es gab zwei geeignete Telefonmasten«, sagt Landsman. »Zwischen die haben wir einen Draht gespannt.«

Er greift in seine Tasche und holt einen Umschlag hervor. Eines von Shpringers Totenpolaroids reicht er Zimbalist über den Tisch, und Zimbalist hält es mit ausgestrecktem Arm, gerade lang genug, um sich darüber klarzuwerden, dass es das Bild einer Leiche ist. Er holt tief Luft, schürzt die Lippen und macht sich bereit, ihnen eine stichhaltige professorale Einschätzung des vorliegenden Beweismittels aufzutischen. Das Bild eines Toten, das ist, ehrlich gesagt, eine Zäsur in der täglichen Routine eines Grenz-Mejwens. Dann blickt er auf das Foto, und in dem Moment, bevor er die absolute Kontrolle über seine Züge wiedergewinnt, sieht Landsman, dass Zimbalist einen Schlag in die Magengrube bekommt. Die Luft weicht aus seiner Lunge, das Blut fließt ihm aus dem Gesicht. Das stete, kluge Flackern von Intelligenz in seinem Blick erlischt. Eine Sekunde lang erblickt Landsman das Polaroid eines toten Grenz-Mejwens. Dann gehen die Lichter im Gesicht des alten Knackers wieder an. Berko und Landsman warten eine Weile, dann noch etwas länger, und Landsman weiß, dass der Mejwen sich jetzt, so gut er kann, bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren und an der Chance festzuhalten, als Nächstes die Worte Meine Herren, ich habe diesen Mann noch nie in meinem Lehen gesehen zu sagen und sie plausibel, logisch, wahr klingen zu lassen.

»Wer war er, Professor Zimbalist?«, fragt Berko schließlich.

Zimbalist legt das Foto auf den Schreibtisch und betrachtet es noch etwas länger, nun ist ihm einerlei, was seine Augen oder Lippen tun.

»Oj, der Junge«, sagt er. »Der liebe, liebe Junge.«

Er holt ein Tuch aus seiner Strickjacke und tupft sich die Tränen von den Wangen, dann hustet er einmal. Es ist ein furchtbares Geräusch. Landsman nimmt das Teeglas des Mejwens und gießt den Inhalt in seines. Aus der Jackentasche holt er die Wodkaflasche, die er am Morgen auf dem Männerklo des Vorsht beschlagnahmt hat. Er schenkt zwei Fingerbreit in das Teeglas und hält es dem alten Knacker hin.

Wortlos nimmt Zimbalist den Wodka und kippt ihn in einem Schluck hinunter. Dann steckt er das Taschentuch wieder in die Tasche und gibt Landsman das Foto zurück.

»Ich habe dem Jungen Schach beigebracht«, sagt er. »Als er noch ein Junge war, meine ich. Bevor er groß wurde. Tut mir leid, ich rede wirr.« Er sucht eine Broadway, hat aber schon alle aufgeraucht. Eine Weile braucht er, bis er das erkennt. Vergeblich bohrt er mit einem krummen Finger in der Packung herum, als suche er eine Erdnuss. Landsman gibt ihm eine von seinen ab. »Danke, Landsman. Danke Ihnen.«

Aber dann sagt er nichts, sondern sitzt einfach nur da und sieht zu, wie seine Papiros runterbrennt. Aus seinen eingefallenen Augenhöhlen späht er zu Berko hinüber, dann riskiert er einen kurzen Kartenspielerblick zu Landsman. Er erholt sich jetzt von dem Schock. Versucht, die Lage kartographisch zu erfassen, die Grenzlinien, die er nicht überschreiten darf, die Türschwellen, die er bei Gefahr für seine Seele nicht übertreten darf. Die behaarte, gefleckte Krabbe seiner Hand lässt eins ihrer Beine zum Telefon auf dem Schreibtisch schnellen. Noch eine Minute, und die Wahrheit und Dunkelheit des Lebens werden wieder in die Obhut von Anwälten verwiesen.

Das Garagentor knarrt und rumpelt, und Zimbalist will sich mit einem dankbaren Stöhnen wieder erheben, aber Berko ist schneller auf den Beinen. Er lässt eine schwere Hand auf die Schulter des Alten sinken.

»Setzen Sie sich, Professor«, sagt er. »Ich bitte Sie. Nehmen Sie sich Zeit, wenn Sie wollen, aber setzen Sie sich bitte wieder auf den Donut.« Er lässt die Hand, wo sie ist, und drückt Zimbalist leicht nach unten. Dabei nickt er in Richtung Garage. »Meyer.«

Landsman geht durch die Werkstatt zur Garageneinfahrt und zerrt seine Dienstmarke hervor. Er stellt sich dem Van in den Weg, als sei die Marke ein richtiges Schild und könne einen zwei Tonnen schweren Chevy aufhalten. Der Fahrer tritt auf die Bremse, und das Heulen der Reifen prallt gegen die kalten Steinwände. Der Fahrer lässt das Fenster hinunter. Er besitzt die komplette Ausrüstung der Zimbalist-Angestellten: Netz um den Bart, gelber Overall, gut entwickelter finsterer Blick.

»Was gibt’s, Detective?«, will er wissen.

»Fahrt spazieren«, sagt Landsman. »Wir unterhalten uns.« Er greift zum Funkgerät und packt den herumschleichenden kleinen Jungmann am Kragen seines langen Mantels, wirft ihn wie einen Welpen zur Beifahrerseite des Vans, reißt die Tür auf und schiebt ihn zärtlich hinein. »Und nimm den kleinen Pischer mit.«

»Chef?«, ruft der Fahrer zum Grenz-Mejwen hinüber. Nach einem Moment nickt Zimbalist und wedelt den Fahrer fort.

»Aber wo soll ich hin?«, sagt der Fahrer zu Landsman.

»Weiß ich nicht«, sagt Landsman. Er drückt die Tür ins Schloss. »Besorgt mir ein schönes Geschenk.«

Landsman klopft auf die Motorhaube, und der Van rollt rückwärts hinaus in den Sturm weißer Linien, gestrickt wie die Drähte des Grenz-Mejwens über nachgebaute Fassaden und den grellgrauen Himmel. Landsman zieht das Garagentor zu und schiebt den Riegel vor.

»Nu, vielleicht fangen Sie noch mal von vorne an«, sagt er zu Zimbalist, als er wieder auf dem Stuhl Platz nimmt. Er schlägt die Beine übereinander und zündet für beide noch eine Papiros an. »Wir haben viel Zeit.«

»Kommen Sie, Professor«, sagt Berko. »Sie kennen das Opfer von Kindesbeinen an, ja? All die Erinnerungen müssen sich doch jetzt in Ihrem Kopf drehen. So schlecht es Ihnen auch geht, Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie einfach erzählen.«

»Das ist es nicht«, sagt der Grenz-Mejwen. »Das … das ist es nicht.« Er nimmt die angezündete Papiros von Landsman entgegen, und diesmal raucht er sie fast zu Ende, ehe er zu sprechen beginnt. Er ist ein gelehrter Jid, er hat gerne Ordnung in seinen Gedanken.

»Er heißt Menachem«, beginnt er. »Mendel. Er ist — oder war — achtunddreißig, ein Jahr älter als Sie, Detective Shemets, aber er hatte am gleichen Tag Geburtstag, am 15. August, stimmt’s? Ja? Wusste ich doch. Seht ihr? Hier ist der Kartenschrank.« Er klopft auf seine haarlose Kuppel. »Karten von Jericho, Detective Shemets, von Jericho und Tyros.«

Das Klopfen auf den Kartenschrank gerät ein wenig außer Kontrolle, er schlägt sich die Jarmulke vom Kopf, und als er nach ihr greift, fällt Asche auf seinen Pullover.

»Mendeles IQ lag bei 170«, fährt er fort. »Mit acht oder neun Jahren konnte er Hebräisch, Aramäisch, Sephardisch, Latein und Griechisch lesen. Die schwierigsten Texte, das dornigste Dickicht von Logik und Argumentation. Damals war Mendele schon ein viel besserer Schachspieler, als ich je hoffen konnte zu werden. Er hatte ein bemerkenswertes Gedächtnis für gespielte Partien, er musste nur einmal eine Notation lesen und konnte sie im Kopf nachspielen, Zug um Zug, ohne Fehler. Als er älter wurde und man ihn nicht mehr so oft spielen ließ, ging er im Kopf berühmte Partien durch. Zwei, drei, vier Partien gleichzeitig.«

»Das wurde auch immer über Melekh Gaystik erzählt«, sagt Landsman. »Der hatte auch so ein Gedächtnis.«

»Melekh Gaystik«, sagt Zimbalist. »Gaystik war ein Freak. Das war nicht mehr menschlich, wie Gaystik spielte. Er hatte ein Hirn wir ein Käfer. Das Einzige, was er konnte, war fressen. Er war grob. Schmierig. Gemein. Mendele war völlig anders. Er bastelte Spielzeug für seine Schwestern, Puppen aus Wäscheklammern und Filz, ein Haus aus einer Packung Haferschleim. Hatte immer Leim an den Fingern und in der Tasche eine Wäscheklammer mit einem Gesicht drauf. Ich gab ihm Zwirn für das Haar. Acht kleine Schwestern hingen ständig an ihm. Eine Ente lief ihm nach wie ein kleiner Hund.« Zimbalists schmale braune Lippen ziehen sich in den Winkeln hoch. »Ob ihr’s glaubt oder nicht, einmal habe ich ein Spiel zwischen Mendel und Melekh Gaystik arrangiert. So was konnte man damals machen, Gaystik war immer pleite und hatte Schulden, er hätte gegen einen betrunkenen Bären gespielt, wenn es Geld gebracht hätte. Damals war der Junge zwölf, Gaystik sechsundzwanzig. Es war das Jahr, bevor er die Meisterschaft in St. Petersburg gewann. Sie spielten drei Partien hinten in meiner Werkstatt, die damals noch, wie Sie sich erinnern werden, Detective, auf der Ringelblum Avenue lag. Ich bot Gaystik fünftausend Dollar für ein Spiel gegen Mendele. Der Junge gewann die erste und dritte Partie. Bei der zweiten hatte er Schwarz und zwang Gaystik zu einem Remis. Ja, Gaystik war heilfroh, dass das Spiel geheim gehalten wurde.«