»Warum?«, will Landsman wissen. »Warum mussten die Spiele geheim gehalten werden?«
»Weil dieser Junge«, sagt der Grenz-Mejwen, »der in einem Hotelzimmer auf der Max Nordau Street starb … Kein schönes Hotel, nehme ich an.«
»Eine Absteige«, sagt Landsman.
»Drückte er sich das Heroin in den Arm?«
Landsman nickt, und nach ein oder zwei harten Sekunden nickt auch Zimbalist.
»Ja. Natürlich. Nu. Ich hatte mich bereit erklärt, die Spiele heimlich zu organisieren, weil diesem Jungen verboten worden war, mit Außenstehenden Schach zu spielen. Irgendwie bekam Mendeles Vater Wind von dem Spiel gegen Gaystik, ich habe nie erfahren, wie. Für mich ging es noch gerade gut aus. Obwohl meine Frau mit dem Vater verwandt war, verlor ich fast sein Haskome, was damals meine Geschäftsgrundlage war. Ich habe mein ganzes Geschäft auf diese Approbation aufgebaut.«
»Der Vater — Sie wollen doch nicht sagen, dass Heskel Shpilman der Vater ist«, sagt Berko. »Der Mann da auf dem Bild ist der Sohn des Verbover Rebbe?«
Da merkt Landsman, wie still es auf Verbov Island ist, im Schnee, in dieser steinernen Scheune, kurz vor der Dunkelheit, während der entweihte Teil der Woche und die sie entweihende Welt sich rüsten, in den Flammen zweier identischer Kerzen zu vergehen.
»Doch«, sagt Zimbalist schließlich. »Mendel Shpilman. Sein einziger Sohn. Er hatte noch einen Zwillingsbruder, aber der wurde tot geboren. Das wurde später als Zeichen gedeutet.«
Landsman sagt: »Als Zeichen wofür? Dass er ein Wunderkind war? Dass er irgendwann als Junkie in einer billigen Absteige in der Untershtot enden würde?«
»Das nicht«, sagt Zimbalist. »Daran dachte niemand.«
»Man sagte … man erzählte sich damals …«, beginnt Berko. Er verzieht das Gesicht, als wisse er, dass das, was er nun äußern wird, Landsman verdrießen und ihm Anlass zum Spott geben wird. Dann zieht er seine kleinen braunen Augen wieder glatt und lässt den Moment verstreichen. Er kann sich nicht überwinden, zu wiederholen, was man sich erzählte. »Mendel Shpilman. Du lieber Gott. Ich habe so einiges gehört.«
»Eine Menge«, sagt Zimbalist. »Alles nur Geschichten, bis er zwanzig Jahre alt war.«
»Was für Geschichten?«, sagt Landsman, gebührend verdrossen. »Geschichten worüber? Nu erzählt schojn, verdammt nochmal!«
14.
Und so erzählt Zimbalist ihnen eine Mendel-Geschichte.
Eine gewisse Frau, sagt er, hatte Krebs und lag im Allgemeinen Krankenhaus von Sitka im Sterben. Nennen wir sie eine Bekannte. Das war 1973. Die Frau war zweifache Witwe, ihr erster Ehemann ein vor dem Krieg in Deutschland von Schtarkern erschossener Spieler, der zweite ein Kletteraffe in Zimbalists Diensten, der sich in einer Hochspannungsleitung verfing. Weil Zimbalist die Witwe seines toten Mitarbeiters mit Bargeld und Gefälligkeiten unterstützte, lernte er sie näher kennen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die beiden ineinander verliebten. Sie waren über das Alter närrischer Leidenschaft hinaus, und so waren sie leidenschaftlich, ohne Narren zu sein. Sie war eine dunkle, schlanke Frau, bereits geübt in der Gewohnheit, ihre Lüste zu zügeln. Sie hielten die Affäre vor allen geheim, nicht zuletzt vor Mrs. Zimbalist.
Um seine erkrankte Freundin im Krankenhaus besuchen zu können, verlegte sich Zimbalist auf Ausflüchte, Heimlichkeiten und die Bestechung von Krankenpflegern. Zusammengerollt zwischen ihrem Bett und der Wand schlief er auf einem Handtuch am Boden. Wenn seine Geliebte im Halbdunkel aus den Tiefen des Morphiumrausches aufschrie, tröpfelte er Wasser zwischen ihre gesprungenen Lippen und kühlte ihre Stirn mit einem feuchten Tuch. Die Uhr an der Wand summte vor sich hin und brach mit dem Minutenzeiger zunehmend unruhig kleine Bröckchen der Nacht ab. Morgens kroch Zimbalist zurück zu seinem Geschäft auf der Ringelblum Avenue — seiner Frau sagte er, er würde dort schlafen, weil er so schlimm schnarche — und wartete auf den Jungen.
Fast jeden Morgen erschien Mendel Shpilman nach dem Beten und dem Thorastudium, um Schach zu spielen. Schach war erlaubt, obwohl das Verbover Rabbinat und die größere Gemeinschaft der Frommen es als Zeitverschwendung für den Jungen betrachteten. Je älter Mendel wurde — je strahlender seine meisterhafte Auffassungsgabe, je leuchtender die Berühmtheit seines frühreifen Scharfsinns —, desto schmerzlicher erschien diese Verschwendung. Es war nicht nur Mendels Gedächtnis, sein wendiges Denken, sein Erfassen von Präzedenzfällen, Geschichte, Gesetzen. Nein, schon als Kind schien Mendel Shpilman intuitiv das chaotische, menschliche Gewässer zu begreifen, das das Rechtssystem betrieb und gleichzeitig ein ausgeklügeltes System von Schleusen und Ablaufkanälen nötig machte. Angst, Zweifel, Lust, Unehrlichkeit, Eidesbruch, Mord und Liebe, Unsicherheit über die Absichten von Gott und den Menschen — das alles erkannte der kleine Mendel nicht nur im aramäischen Abstraktum, sondern auch wenn es im Studierzimmer seines Vaters auftauchte, gewandet in den dunklen Twill und die kräftige Muttersprache des Alltags. Falls je Konflikte im Kopf des Jungen entstanden, Zweifel an der Bedeutung des Rechtssystems, das er am Verbover Hof zu Füßen einer Schar ausgewachsener Gannefs und Gauner lernte, so war nichts davon zu merken. Nicht als gläubiges Kind und nicht als der Tag kam, da er allem den Rücken kehrte. Mendel hatte einen Kopf, der widersprüchliche Lehrmeinungen nebeneinanderstellen konnte, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Nur weil die Shpilmans so stolz auf seine Vortrefflichkeit als jüdischer Sohn und Gelehrter waren, tolerierten sie jene Seite von Mendels Charakter, die am liebsten spielte. Unablässig dachte sich Mendel komplizierte Streiche und Juxe aus und führte Stücke mit seinen Schwestern, Tanten und der Ente auf. Manche fanden, das größte Wunder vollbrachte Mendel, wenn er seinen eindrucksvollen Vater alljährlich überzeugte, die Rolle der Königin Waschti im Purimspiel zu übernehmen. Der Anblick dieses düsteren Herrschers, dieses Gebirges von Würde, dieses furchterregenden Klotzes, wenn er auf hohen Absätzen herumtrippelte! Die blonde Perücke! Lippenstift und Rouge, Flitter und Glitter! Es mag der grausigste Auftritt als Frau gewesen sein, den das Judentum je hervorbrachte. Die Leute liebten die Nummer. Und sie liebten Mendel, weil er sie Jahr für Jahr möglich machte. Dabei war sie nur ein weiterer Beweis für die Liebe, die Heskel Shpilman für diesen Jungen hegte. Und mit derselben liebevollen Nachsicht wurde es Mendel gestattet, täglich eine Stunde mit dem Schachspiel zu verschwenden, unter der Bedingung, dass er seinen Gegner unter den Gläubigen von Verbov wählte.
Mendel wählte den Grenz-Mejwen, den einsamen Außenseiter in ihrer Mitte. Es war ein kleines Zeichen der Rebellion oder Halsstarrigkeit, die in späteren Jahren noch so mancher wiedertreffen sollte. Doch in der Sphäre von Verbov hatte überhaupt nur Zimbalist die minimale Chance, den Jungen zu schlagen.
»Wie geht es ihr?«, sagte Mendel eines Morgens zu Zimbalist, als seine Freundin nun schon zwei Monate im Krankenhaus von Sitka vor sich hin starb und fast aus dem Leben schied.
Zimbalist bekam einen Schock bei der Frage, natürlich nicht zu vergleichen mit dem Schicksal des zweiten Gatten der Witwe, doch es reichte, um sein Herz ein oder zwei Schläge lang aussetzen zu lassen. Er könne sich an jede Partie erinnern, die er je mit Mendel Shpilman ausgetragen habe, sagt er, nur an diese eine nicht; nur ein einziger Zug sei ihm von diesem Spiel im Gedächtnis geblieben. Zimbalists Frau war eine Shpilman, eine Cousine des Jungen.