Zimbalists Auskommen, seine Ehre, vielleicht sogar sein Leben hingen davon ab, dass das Geheimnis des Ehebruchs gewahrt blieb. Er war sich vollkommen sicher, dass das bisher der Fall gewesen war. Über seine Drähte und Fäden erspürte der Grenz-Mejwen jedes Flüstern und jedes Gerücht, so wie eine Spinne die im Netz zappelnde Fliege in ihren Beinen spürt. Es war unmöglich, dass Mendel Shpilman etwas zu Ohren gekommen war, ohne dass Zimbalist vorher davon gehört hätte.
Er fragte: »Wie geht es wem?«
Der Junge schaute ihn an. Mendel war kein hübsches Kind. Er hatte allzeit gerötete Wangen, eng stehende Augen, ein zweites Kinn und sogar den Anflug eines dritten, ohne dass das erste klar zu erkennen gewesen wäre. Aber seine Augen waren, wenn auch zu klein und zu nah am Nasenrücken, intensiv und voller Farben — wie die Flecken auf einem Schmetterlingsflügeclass="underline" blau, grün, golden. Mitleid, Spott, Vergebung. Urteilsfrei. Vorwurfsfrei.
»Schon gut«, sagte Mendel sanft. Dann setzte er den Damenläufer an seinen ursprünglichen Platz auf dem Brett zurück.
Sosehr Zimbalist auch grübelte, er konnte keinen Sinn in diesem Zug erkennen. In einem Moment kam es ihm vor, als künde der Zug von einer phantastischen Schule des Schachs oder spiele auf sie an. Im nächsten Moment schien er nur das zu sein, was er aller Wahrscheinlichkeit nach war: eine Art Zurücknahme, angeboten in der Hoffnung, dass sie, anders als die vorhergehende Frage, den Freund weder übertölpelte noch erschreckte.
Im Laufe der nächsten Stunde bemühte sich Zimbalist, den kleinen Zug zu verstehen und die Kraft aufzubringen, einem Zehnjährigen, dessen Universum von Lehrhaus, Schul und der Tür zu der Küche seiner Mutter begrenzt wurde, nicht das Leid und das düstere Verzücken seiner Liebe zu der sterbenden Witwe anzuvertrauen, dem Jungen nicht zu beichten, wie jedes Mal ein unbekannter Durst in ihm selbst gelöscht wurde, wenn er ihr das kühle Wasser auf die blättrigen Lippen träufelte.
Sie spielten ohne weitere Unterhaltung bis zum Ende der Stunde. Doch als es für den Jungen Zeit wurde zu gehen, drehte er sich in der Tür des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue um und fasste Zimbalist am Ärmel. Zögernd, als sträube oder schäme er sich. Vielleicht hatte er auch Angst. Dann bekam er einen harten, verkniffenen Gesichtsausdruck, in dem Zimbalist die verinnerlichte Stimme des Rebbes erkannte, wenn der seinen Sohn an die Pflicht gemahnte, der Gemeinschaft zu dienen.
»Wenn Sie sie heute sehen«, sagte Mendel, »sagen Sie ihr, dass ich ihr meinen Segen schicke. Dass ich sie grüßen lasse.«
»Das mache ich«, sagte Zimbalist oder meinte, es gesagt zu haben.
»Richten Sie ihr von mir aus, dass alles gut werden wird.«
Dieses Äffchengesicht, dieser traurige Mund und dieser Blick, der sagte, dass er einen vielleicht nur auf den Arm nahm, sosehr er einen auch kannte und liebte.
»Oh, das mache ich«, sagte Zimbalist, dann brach er schluchzend zusammen. Der Junge holte ein sauberes Taschentuch hervor und reichte es Zimbalist. Geduldig hielt er dem Grenz-Mejwen die Hand. Mendels Finger waren weich, ein wenig klebrig. Auf die Innenseite seines Handgelenks hatte seine kleinere Schwester Reyzl mit roter Tinte ihren Namen geschrieben. Als Zimbalist die Fassung zurückgewann, ließ Mendel seine Hand los und stopfte sich das feuchte Taschentuch in die Hosentasche.
»Bis morgen«, sagte er.
Als Zimbalist in jener Nacht auf die Krankenstation schlich, trichterte er seiner bewusstlosen Geliebten den Segen des Jungen ins Ohr, kurz bevor er sein Handtuch auf dem Boden ausbreitete. Er tat es ohne Hoffnung und mit nur sehr wenig Glauben. In der Dunkelheit um fünf Uhr morgens weckte Zimbalists Freundin ihn und sagte, er solle nach Hause gehen und mit seiner Frau frühstücken. Es waren die ersten verständlichen Sätze, die sie seit Wochen von sich gegeben hatte.
»Haben Sie ihr meinen Segen erteilt?«, fragte Mendel, als sie sich am nächsten Morgen zum Schachspiel hinsetzten.
»Ja.«
»Wo ist sie?«
»Im Krankenhaus.«
»Mit anderen Menschen? Auf einer Station?«
Zimbalist nickte.
»Haben Sie meinen Segen auch den anderen Menschen gegeben?«
Das war Zimbalist nicht in den Sinn gekommen.
»Ich habe nicht mit ihnen gesprochen«, sagte er. »Ich kenne sie nicht.«
»Es war mehr als genug Segen für alle«, teilte Mendel ihm mit. »Sagen Sie es den Leuten. Geben Sie ihn heute Abend weiter.«
Doch als Zimbalist seine Freundin am Abend besuchen wollte, war sie auf eine andere Station verlegt worden, eine Station, wo niemand in Todesgefahr schwebte, und irgendwie vergaß Zimbalist den Auftrag des Jungen. Zwei Wochen später schickten die Ärzte die Frau unter verwirrtem Kopfschütteln zurück nach Hause. Wiederum zwei Wochen später zeigte das Röntgenbild keine Spur von Krebs in ihrem Körper.
Da hatten Zimbalist und die Frau ihre Affäre bereits in gegenseitigem Einvernehmen beendet, und Zimbalist schlief wieder jede Nacht im ehelichen Bett. Die täglichen Treffen mit Mendel hinten in seiner Werkstatt auf der Ringelblum Avenue wurden noch eine Weile fortgeführt, dann fand Zimbalist, er habe die Freude daran verloren. Das augenscheinliche Wunder der Krebsheilung veränderte seine Beziehung zu Mendel Shpilman für alle Zeit. Zimbalist konnte ein gewisses Schwindelgefühl nicht abschütteln, wann immer Mendel ihn mit seinen eng stehenden, von Mitleid und Gold befleckten Augen ansah. Der Glaube des Grenz-Mejwens an die Ungläubigkeit war durch die einfache Frage Wie gebt es ihr? erschüttert worden, durch ein Dutzend Worte des Segens, durch einen schlichten Schachzug, der ein Schachspiel erahnen ließ, das über das hinausging, was Zimbalist kannte.
Als Vergeltung für das Wunder arrangierte Zimbalist das geheime Treffen zwischen Mendel und Melekh Gaystik, dem König des Café Einstein und zukünftigen Weltmeister. Drei Partien im Hinterzimmer des Geschäfts auf der Ringelblum Avenue, und der Junge gewann zwei von dreien. Als diese List entdeckt wurde — die andere nicht, es erfuhr niemals jemand von der Affäre —, wurden Mendel Shpilman die Besuche bei Zimbalist verboten. Danach verbrachten die beiden nie wieder eine gemeinsame Stunde am Brett.
»Das kommt davon, wenn man seinen Segen erteilt«, sagt Zimbalist, der Grenz-Mejwen. »Aber Mendel Shpilman brauchte lange, um das zu begreifen.«
15.
»Du kennst den Gannef«, stellt Landsman Berko halb die Frage, als sie hinter dem Grenz-Mejwen durch den Sabbatschnee zur Tür des Rebbes stapfen. Für die Expedition über den Platz hat sich Zimbalist in einem Spülbecken hinten in der Werkstatt Gesicht und Achselhöhlen gewaschen. Er machte einen Kamm nass und harkte seine sechzehn Haare zu einem Moire auf seinem Kopf. Dann zog er einen braunen Kordmantel, eine orangefarbene Daunenweste und schwarze Gummischuhe an, über alles gürtete er einen Bärenfellmantel, der wie ein sieben Meter langer Schal den Geruch von Mottenkugeln hinter sich herzieht. Von einem Elchgeweih neben der Tür nahm der Mejwen einen Fußball oder eine Ottomane aus dem Pelz eines Vielfraßes und setzte sich das Ding auf den Kopf. Nun watschelt er, nach Naphthalin stinkend, vor den beiden Polizeibeamten her. Er sieht aus wie ein kleiner Bär, der von grausamen Herren gezwungen wird, erniedrigende Kunststücke zu vollführen. Keine Stunde mehr bis zum Sonnenuntergang, und der fallende Schnee gleicht Splittern gebrochenen Tageslichts. Der Himmel über Sitka sieht aus wie schnell anlaufendes, trübes Silber.
»Ja, ich kenne ihn«, sagt Berko. »Als ich meine Stelle auf dem 5. Revier antrat, wurde ich direkt zu ihm beordert. Es gab eine Zeremonie in seinem Büro, über dem Lehrhaus in der S. Ansky Street. Er hat mir etwas an die Dienstmütze geheftet, ein kleines goldenes Blatt. Danach schickte er mir zu Purim immer einen hübschen Obstkorb. Wurde mir nach Hause geliefert, obwohl ich nie meine Adresse herausgegeben hatte. Jedes Jahr Pfirsiche und Apfelsinen, bis wir raus nach Shvartser-Yam zogen.«