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Er schiebt seinen Oberkörper in den Kriechkeller. Die Luft ist kalt und hat den bitteren Geruch von Mausekötteln. Der Strahl der Taschenlampe tröpfelt über alles, verbirgt ebenso viel wie er offenbart. Wände aus Löschbeton, ein gestampfter Erdboden, die Decke ein widerliches Gewirr aus Drähten und Isolierschaum. Weiter hinten in der Mitte liegt eine Platte aus grobem Sperrholz in einem runden, im Boden eingelassenen Metallrahmen. Landsman hält den Atem an und schwimmt durch seine Panik zum Loch im Boden, fest entschlossen, so lange wie möglich unten zu bleiben. Die Erde um den Rahmen ist unberührt. Eine gleichmäßige Staubschicht liegt über Holz und Metall, keine Abdrücke, keine Spuren. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht haben könnte. Landsman schiebt die Fingernägel zwischen Sperrholz und Rahmen und hievt die schlichte Klappe heraus. Die Taschenlampe beleuchtet ein gewundenes, in die Erde geschraubtes Aluminiumrohr mit Stahlklampen als Stufen. Landsman sieht, dass der Rand des Rohres selbst den Rahmen bildet. Gerade breit genug für einen ausgewachsenen Psychopathen. Oder einen jüdischen Polizisten mit weniger Phobien als Landsman. Er klammert sich an seine Scholem wie an einen Griff, ringt mit dem irren Bedürfnis, der Dunkelheit in die Kehle zu schießen. Mit einem Klappern lässt er die Sperrholzscheibe zurück in den Rahmen fallen. Auf gar keinen Fall geht er da runter.

Die Dunkelheit folgt ihm den ganzen Weg zurück die Treppe hinauf bis in die Lobby, greift nach seinem Kragen, zupft an seinem Ärmel.

»Nichts«, sagt er mit großer Selbstbeherrschung zu Tenenboym. Er sagt es betont fröhlich. Es könnte eine Prophezeiung dessen sein, was seine Ermittlung im Mordfall Emanuel Lasker zwangsläufig hervorbringen wird, eine Feststellung, für was Lasker seiner Meinung nach lebte und starb, eine Erkenntnis, was nach der Reversion von Landsmans Heimatstadt zurückbleiben wird. »Nichts.«

»Sie wissen ja, was Kohn meint«, sagt Tenenboym. »Kohn meint, wir hätten einen Hausgeist.« Kohn ist der Tagesportier. »Der Sachen entwendet oder umstellt. Kohn glaubt, es ist der Geist von Professor Zamenhof.«

»Wenn so eine Absteige nach mir benannt würde«, sagt Landsman, »würde ich da auch rumspuken.«

»Man kann nie wissen«, bemerkt Tenenboym. »Besonders heutzutage.«

Heutzutage weiß man nie. Draußen in Povorotny paarte sich eine Katze mit einem Kaninchen und brachte entzückende Missgeburten zur Welt, deren Fotos das Titelblatt der Sitka Tog zierten. Im vergangenen Februar schworen fünfhundert Zeugen quer durch den ganzen Distrikt, dass sie zwei Nächte in Folge im Schimmer des Nordlichts den Umriss eines Gesichts mit Bart und Schläfenlocken erkannt hätten. Heftige Dispute über die Identität des bärtigen Weisen am Himmel brachen aus, ob das Gesicht gelächelt habe oder nicht (oder lediglich unter leichten Blähungen litt), sowie über die Bedeutung der sonderbaren Erscheinung. Und just in der letzten Woche wehrte sich im koscheren Schlachthaus auf der Zhitlovsky Avenue inmitten des panischen Federgeflatters ein Huhn gegen den Schochet, als der gerade das rituelle Messer hob, und verkündete auf Aramäisch die nah bevorstehende Ankunft von Messias. Nach Angaben der Tog äußerte das wundersame Huhn eine Anzahl verblüffender Prophezeiungen, auch wenn es die Suppe zu erwähnen unterließ, in der es später, abermals verstummt wie Gott daselbst, die Hauptrolle spielen sollte. Schon die flüchtigste Durchsicht der Archive, denkt Landsman, würde zeigen, dass seltsame Zeiten für Juden fast immer auch seltsame Zeiten für Hühner waren.

3.

Auf der Strasse fegt der Wind den Regen von den Mantelaufschlägen. Landsman duckt sich in den Hoteleingang. Zwei Männer, einer mit einem auf den Rücken geschnallten Cellokasten, der andere mit einer Geige oder Bratsche im Arm, kämpfen sich durch das Wetter zur Tür von Pearl of Manila auf der anderen Straßenseite. Die Konzerthalle ist zehn Häuserblocks und eine ganze Welt entfernt von diesem Ende der Max Nordau Street, doch das Verlangen eines Juden nach Schweinefleisch, insbesondere frittiertem, ist stärker als die Nacht oder die Entfernung oder der kalte Wind vom Golf von Alaska. Landsman selbst kämpft gegen den Drang, zu seiner Flasche Sliwowitz und seinem Souvenirglas von der Weltausstellung in Zimmer 505 zurückzukehren.

Stattdessen zündet er sich eine Papiros an. Nach einem Jahrzehnt der Enthaltsamkeit hat Landsman vor knapp drei Jahren erneut mit dem Rauchen begonnen. Seine Exfrau war damals schwanger. Es war eine kontrovers diskutierte und in manchen Stadtteilen heißersehnte Schwangerschaft — ihre erste —, aber keine geplante. Wie bei vielen Schwangerschaften, die zu lange diskutiert werden, hatte der zukünftige Vater zuvor eine zwiespältige Einstellung gehabt. Nach siebzehn Wochen und einem Tag — der Tag, an dem Landsman nach zehn Jahren seine erste Schachtel Broadways kaufte — bekamen sie ein schlechtes Testergebnis. Viele, wenn auch nicht alle Zellen, aus denen der Fötus mit Decknamen Django bestand, besaßen ein zusätzliches Chromosom auf dem zwanzigsten Paar. Mosaizismus nennt man das. Es kann schwere Anomalien hervorrufen. Oder überhaupt keine Folgen haben. In der verfügbaren Literatur mochte ein gläubiger Mensch Zuspruch finden, ein ungläubiger reichlich Grund zur Verzweiflung. Landsmans Sicht der Dinge — zwiegespalten, verzweifelt und ohne jeglichen Glauben — setzte sich durch. Ein Arzt mit einem halben Dutzend Laminaria brach das Siegel des Lebens von Django Landsman. Drei Monate später zog Landsman mit seinen Zigaretten aus dem Haus auf Tshemovits Island aus, in dem Bina und er fast die gesamten fünfzehn Jahre ihrer Ehe verbracht hatten. Es lag nicht daran, dass er nicht mit dem Schuldgefühl leben konnte. Er konnte nur nicht mit ihm und Bina leben.

Ein alter Mann, der sich selbst voranschiebt wie einen klapprigen Handkarren, kommt in Zickzacklinie auf den Hoteleingang zu. Er ist ein kleiner Mann, keine eins fünfzig, und zieht einen großen Koffer hinter sich her. Landsman mustert den offenen, langen weißen Mantel über dem weißen Anzug mit Weste und den tief in die Stirn gezogenen, breitkrempigen weißen Hut. Weißer Bart und weiße Schläfenlocken, fedrig und schwer zugleich. Der Koffer — ein altes Monstrum aus fleckigem Brokat und zerkratztem Leder. Die rechte Körperhälfte des kleinen Mannes ist um fünf Grad tiefer als die linke, hinabgezogen vom Koffer, der offenbar die komplette Bleibarrensammlung des alten Herrn enthält. Das Kerlchen hält inne und hebt einen Finger, als habe es Landsman eine Frage zu stellen. Der Wind spielt mit seinem Barthaar und der Hutkrempe. Von seinem Bart, seinen Achselhöhlen, seinem Atem und seiner Haut weht der Wind den schweren Geruch von altem Tabak, feuchtem Flanell und vom Schweiß eines auf der Straße lebenden Mannes herüber. Landsman fällt die Farbe der spitzen, antiquierten Stiefel ins Auge: Sie sind gelblich elfenbeinfarben wie der Bart des Alten und werden seitlich geknöpft.

Landsman erinnert sich, dass er diesen komischen Kauz früher öfter gesehen hat, als er Tenenboym mehrfach wegen leichten Diebstahls und Drogenbesitzes verhaftete. Damals war der Jid nicht jünger, jetzt ist er nicht älter. Er wurde Elija genannt, weil er an allen unmöglichen Orten mit seiner Puschke und dieser unerklärlichen Art auftauchte, als habe er etwas Wichtiges zu sagen.

»Liebchen«, sagt er zu Landsman. »Das ist das Hotel Zamenhof, nein?«

Sein Jiddisch klingt ein wenig exotisch in Landsmans Ohren, gewürzt mit Niederländisch oder vielleicht Niederdeutsch. Der Alte ist schwach auf den Beinen und hat einen krummen Rücken, aber abgesehen von den Krähenfüßen um die blauen Augen wirkt sein Gesicht jugendlich und faltenlos. In seinen Augen selbst glüht ein flammender Eifer, der Landsman verblüfft. Die Aussicht auf eine Nacht im Zamenhof gibt nicht vielen Menschen Anlass zu solcher Vorfreude.

»Genau.« Landsman bietet dem Propheten Elija eine Broadway an, und der kleine Mann nimmt zwei, von denen er eine in den dunklen Reliquienschrein seiner Brusttasche schiebt. »Kaltes und warmes Wasser. Schammes mit Dienstmarke direkt im Haus.«