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Er schleppt das Bett zum Fenster und drückt die klappernden Jalousienstäbe zur Seite. Die Fensterscheibe ist aus geriffeltem Glas. Eine wellenförmige, grüngraue Welt in einem schweren Metallrahmen. Irgendwann — vielleicht noch vor Kurzem — gab es einen Riegel, aber seine zuvorkommenden Gastgeber haben ihn entfernt. Jetzt ist das Fenster nur noch auf eine Art zu öffnen. Landsman geht zum Mülleimer und zieht das Bett dabei hinter sich her wie ein handliches Symbol. Er hebt den Mülleimer hoch, zielt und schleudert ihn gegen das geriffelte Glas. Der Eimer prallt ab, fliegt zu Landsman zurück und trifft ihn mitten auf der Stirn. Kurz darauf schmeckt er zum zweiten Mal an diesem Tag Blut, das ihm die Wange hinunter in den Mundwinkel rinnt.

»Shnapish, du Sau«, sagt er.

Er schiebt das Bett durch das Zimmer zur langen Wand und kippt mit der freien Hand die Matratze aus dem Rahmen. Er lehnt sie an die gegenüberliegende Wand. Dann ergreift er den nun nackten Bettrahmen an beiden Enden, drückt die Knie durch und hievt ihn hoch. Kurz steht er so da, den klapprigen Rahmen parallel zum Körper. Er schwankt unter dem unerwarteten Gewicht, das gar nicht so groß ist, aber seine Kraft dennoch strapaziert. Er macht einen Schritt zurück, senkt den Kopf und schleudert den Rahmen durch das Fenster. Nebel und grüner Rasen platzen in Landsmans geblendeten Blick. Bäume, Krähen, sirrende Hornissen zerbrochenen Glases, das gewehrlaufgraue Wasser der Meerenge, ein strahlend weißes, rot abgesetztes Schwimmflugzeug. Dann reißt sich der Bettrahmen von Landsman los und springt durch die klaffenden gläsernen Fangzähne hinaus in den Morgen.

Als Schulkind hatte Landsman immer gute Noten in Physik. Newton’sche Mechanik, Körper in Ruhe und in Bewegung, Aktion und Reaktion, Schwerkraft und Masse. Physik ergab mehr Sinn als alles andere, was man Landsman je beizubringen versuchte. Beispielsweise die Vorstellung von Triebkraft, die Neigung eines in Bewegung befindlichen Körpers, in Bewegung zu bleiben. Daher sollte Landsman eigentlich nicht allzu überrascht sein, als der Bettrahmen sich nicht damit begnügt, das Fenster zu zerschmettern. Heftig reißt er an Landsmans Schulter, reißt sie fast aus dem Gelenk, und wieder wird er von dem namenlosen Gefühl ergriffen, das ihn beim Einstieg in Mrs. Shpilmans fahrende Limousine befieclass="underline" Die plötzliche Erkenntnis, wie eine umgekehrte Satori-Erfahrung, dass er einen schlimmen, wenn nicht gar tödlichen Fehler begangen hat.

Landsmans Glück ist: Er landet in einem Schneehaufen. Es ist eine hartnäckige Stelle, tief im Schatten auf der Nordseite der Wohnheime oder Kaserne versteckt. Der einzig sichtbare Schnee der gesamten Anlage, und Landsman fällt mitten hinein. Seine Kiefer knallen aufeinander, und jeder Zahn lässt seinen eigenen reinen Ton erklingen, derweil Landsmans Hintern auf dem Erdboden auftrifft und mit Landsmans Knochen sein Newton’sches Spiel veranstaltet.

Er hebt den Kopf aus dem Schnee. Kalte Luft streicht ihm über den Nacken. Zum ersten Mal, seit er sich in die Luft schwang, stellt er fest, dass er friert. Er richtet sich auf, noch immer summt sein Kiefer. Sein Rücken ist vom Schnee gezeichnet wie von den Striemen einer Stacheldrahtpeitsche. Unter dem Gewicht des Bettrahmens taumelt und wankt Landsman nach links. Der Rahmen lädt ihn ein, sich wieder zu ihm in den Schnee zu setzen. Darin zu versinken, den schmerzenden Kopf in den sauberen kalten Schneehaufen zu stecken. Die Augen zu schließen. Loszulassen.

In eben diesem Moment vernimmt Landsman das weiche Scharren von Sohlen, die um die Ecke des Gebäudes kommen, zwei Gummisohlen, die die Spuren ihres eigenen Voranschreitens ausradieren. Ein fehlerhafter Gang, das Hoppeln und Schlurfen eines hinkenden Mannes. Wieder ergreift Landsman den Bettrahmen und hievt ihn empor, dann drückt er sich mit dem Rücken gegen die schindelbedeckte Seite des Wohnheims. Als er einen Wanderstiefel und den Tweedaufschlag von Fliglers Hosenbein sieht, schleudert er den Rahmen von sich. Als Fligler um die Ecke biegt, trifft ihn die Metallkante des Rahmens mitten ins Gesicht. Eine Hand roten Blutes spreizt ihre Finger über seine Wangen und Stirn. Sein Gehstock schnellt in die Höhe und trifft mit einem Marimbaton auf dem Pflaster auf. Als traue sich der Bettrahmen nicht ohne seinen besten Freund, zerrt er Landsman hinter sich her. Der Geruch von Fliglers Blut erfüllt Landsmans Nase. Er rappelt sich auf und entwindet mit seiner freien Hand die Scholem Fliglers schlaffen Fingern.

Er hebt die Automatik und erwägt, den am Boden liegenden Mann mit schwarzer Bereitwilligkeit zu erschießen. Dann schweift sein Blick zum Haupthaus hinüber, hundertfünfzig Meter weiter. Dunkle Gestalten bewegen sich hinter den Terrassentüren. Sie stoßen sie auf, und die o-lippigen Visagen von großen jungen Jids in Anzügen füllen die Türrahmen. Landsman beneidet sie um ihre jugendliche Fähigkeit des Staunens, hebt aber dennoch die Pistole in ihre Richtung. Sie ducken sich und ziehen sich zurück, wodurch ein großer, schlanker, hellhaariger Mann ins Blickfeld gerät. Der Neuankömmling, frisch aus dem Bauch seines strahlend weißen Wasserflugzeugs. Sein Haar ist wirklich auffällig, wie ein Sonnenstrahl auf einer Metallplatte. Pinguin-Pullover, weite Kordhose. Kurz runzelt der Mann im Pinguin-Pullover die Stirn und schaut verwirrt drein. Dann zerrt ihn jemand von der Tür fort, weil Landsman ihn anvisiert.

Die Handschelle schneidet in Landsmans Handgelenk, sie ist so scharf, dass sie seine Haut abscheuert. Er überlegt es sich anders und zielt mit der Pistole auf seinen linken Arm. Vorsichtig gibt er einen einzigen Schuss ab, und die Handschelle löst sich, baumelt an seinem Gelenk. Mit leichtem Bedauern stellt Landsman den Bettrahmen ab, als sei es der Körper eines wichtigtuerischen, aber loyalen Faktotums, das den Landsmans treue Dienste erwiesen hat. Dann macht er sich auf in Richtung Wald, steuert auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu. Es müssen mindestens zwanzig gesunde junge Juden hinter ihm her sein. Sie schreien, fluchen, erteilen Befehle. In der ersten Minute rechnet er damit, den verzweigten Blitz eines Schusses in seinem Hirn zu sehen und im langsamen Donnergrollen niederzusinken. Aber es geschieht nichts; es gab wohl Anweisung, nicht zu schießen.

Das Letzte, was er will, ist irgendeine Schweinerei.

Landsman stellt fest, dass er über einen Feldweg läuft, akkurat angelegt und gut gepflegt, gesäumt von roten Reflektoren an Metallstäben. Er erinnert sich an den fernen Streifen Grüns, den er aus der Luft erblickte, hinter dem Wald, betupft mit Schneehaufen. Er nimmt an, dass dieser Weg dorthin führt. Irgendwohin muss er ja führen.

Landsman läuft durch den Wald. Auf dem Weg liegen Tannennadeln, sie dämpfen den Aufprall seiner nackten Fersen. Fast kann er sehen, wie die Wärme aus seinem Körper weicht, wie er sie in schimmernden Wellen hinter sich herzieht. Hinten im Mund hat er einen Geschmack, der dem Geruch von Fliglers Blut ähnelt. Die Glieder der zerschossenen Kette baumeln klirrend an der Handschelle. Irgendwo hämmert sich ein Baumspecht die Seele aus dem Leib. Landsmans Seele ist ebenfalls schwer beschäftigt, will aus diesen Männern und ihren Angelegenheiten schlau werden. Aus diesem verkrüppelten Professorentyp, dessen TEC-9 Landsman jetzt bei sich trägt. Aus dem Arzt mit der Betonstirn. Aus den verlassenen Zimmern in den Wohnheimen. Aus dieser Besserungsanstalt, die keine ist. Aus den strammen Jungs auf dem Gelände, die ungeduldig mit den Hufen scharren. Aus dem goldenen Mann im Pinguin-Pulli, der keine Schweinerei will.

Derweil ist ein anderer Teil seines Hirns mit der Einschätzung der Außentemperatur beschäftigt — circa zwei, drei Grad — und macht dann weiter mit der Berechnung oder dem Abruf von Tabellen mit Zeitangaben, die Landsman einmal gesehen haben mag, wie lange es dauert, bis ein jüdischer Polizist in Unterhose an Unterkühlung stirbt. Doch die kommandoführenden Zellen seines großen ruinierten Organs, betäubt und verwirrt, befehlen ihm zu laufen, einfach nur weiterzulaufen.