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»Kein Verlangen?« In dem A auf dem Namensschild des Doktors ist eine Ascheflocke. Er tupft mit der Fingerkuppe darauf. »Verspüren Sie jetzt nicht das Verlangen, etwas zu trinken?«

»Vielleicht mag ich es einfach«, sagt Landsman. »Haben Sie schon mal daran gedacht?«

»Vielleicht«, sagt der Arzt. »Oder aber Sie mögen einfach große, sabbernde Hunde.«

»Okay, ist gut jetzt, Doc«, sagt Landsman. »Machen wir uns nichts vor.«

»In Ordnung.« Dr. Rau wendet sein leeres Gesicht Landsman zu, und die Pupillen seiner Augen wirken gusseisern. »Auf Grundlage meiner Untersuchung schätze ich, dass Sie gerade einen Alkoholentzug durchmachen, Detective Landsman. Abgesehen von dem längeren Aufenthalt in der Kälte, weisen Sie Dehydrierung, Tremor, Herzrasen und vergrößerte Pupillen auf. Ihr Blutzucker ist niedrig, woraus ich schließe, dass Sie wahrscheinlich nichts gegessen haben. Appetitverlust ist ebenfalls ein Entzugssymptom. Ihr Blutdruck ist erhöht, und Ihr jüngstes Verhalten scheint, wie ich gehört habe, reichlich sprunghaft gewesen zu sein. Sogar gewalttätig.«

Landsman streicht über die faltigen Kragenaufschläge seines Chambrayhemds und versucht, sie zu glätten. Wie billige Jalousien, die sich von selbst aufrollen.

»Herr Doktor«, sagt er, »mal zwischen uns Männern mit Röntgenaugen gesprochen: Ich bewundere Ihren Scharfsinn, aber sagen Sie mir bitte: Wenn der indische Staat abgeschafft würde und Sie in zwei Monaten mit allen, die Sie lieben, in den Schlund des Wolfes geworfen würden, wenn Sie nirgends hingehen könnten, das aber allen scheißegal wäre, und wenn die halbe Welt die letzten tausend Jahre damit verbracht hätte, Hindus umzubringen, glauben Sie nicht, dass Sie dann zur Flasche greifen würden?«

»Entweder das, oder ich würde vor fremden Ärzten Reden schwingen.«

»Der Hund mit dem Weinbrand macht sich nie über den Verschütteten lustig«, sagt Landsman wehmütig.

»Detective Landsman!«

»Ja, Doc.«

»Ich habe Sie in den letzten elf Minuten untersucht, und in diesem Zeitraum haben Sie drei längere Äußerungen von sich gegeben. So etwas nenne ich Reden schwingen.«

»Ja«, sagt Landsman, und jetzt beginnt sein Blut wieder zu fließen: in seine Wangen. »Das kann schon mal vorkommen.«

»Sie halten gerne Monologe?«

»Mal so, mal so.«

»Litaneien.«

»So wurde das auch schon genannt.«

Zum ersten Mal merkt Landsman, dass Dr. Rau heimlich an etwas kaut, es mit den Backenzähnen bearbeitet. Der schwache Geruch von Anis entfleucht seinen zucker-gussrosa Lippen.

Der Arzt notiert etwas auf Landsmans Karteikarte.

»Sind Sie momentan in Behandlung bei einem Psychiater, oder nehmen Sie Medikamente gegen Depressionen?«

»Depressionen? Finden Sie mich depressiv?«

»Das ist nur ein Wort«, sagt der Arzt. »Ich suche nach möglichen Symptomen. Wie mir Inspector Dick sagte und meine eigene Untersuchung bestätigt, scheint es mir zumindest im Bereich des Möglichen zu liegen, dass Sie eventuell an Stimmungsschwankungen leiden.«

»Sie sind nicht der Erste, der das sagt«, sagt Landsman. »Tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.«

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Nein, eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht?«

»Nein. Ich will nicht.«

»Sie wollen nicht.«

»Ich hab … ach. Angst, ich könnte meinen Biss verlieren.«

»Das erklärt das Trinken«, sagt der Arzt, und jetzt haben seine Worte in Landsmans Ohren einen ironischen Lakritzhauch. »Hab gehört, es wirkt Wunder auf den Biss.« Er geht zur Tür, öffnet sie, und ein Indianer-Nos kommt herein, um Landsman abzuführen. »Nach meiner Erfahrung, Detective Landsman, wenn ich das sagen darf«, schließt der Arzt seine eigene kleine Litanei. »Wer sich darum sorgt, seinen Biss zu verlieren, merkt oft nicht, dass ihm schon längst die Zähne ausgefallen sind.«

»Der Swami spricht«, sagt der Indianer-Nos.

»Schließen Sie ihn ein«, sagt der Arzt und wirft Landsmans Krankenakte in einen an der Wand befestigten Korb.

Der Indianer-Nos hat einen Kopf wie eine Rotholzmaserung und die schlimmste Frisur, die Landsman je gesehen hat, eine scheußliche Kreuzung aus einer Tolle und einem Soldatenschnitt. Er führt Landsman durch leere Gänge, eine Stahltreppe hinauf bis in einen Raum am Ende des Gefängnisses von St. Cyril. Der Raum hat eine normale Stahltür, kein Gitter. Er ist einigermaßen sauber und einigermaßen gut beleuchtet. Auf dem Bett liegen eine Matratze, ein Kopfkissen und eine akkurat gefaltete Decke. Die Toilette hat einen Sitz. An der Wand ist ein Metallspiegel.

»Die VIP-Suite«, sagt der Indianer-Nos.

»Sie sollten mal sehen, wo ich wohne«, sagt Landsman. »Ist fast so schön wie hier.«

»Nichts Persönliches«, sagt der Nos. »Der Inspector wollte, dass Sie das wissen.«

»Wo ist er?«

»Kümmert sich um Ihre Sache. Diese Leute haben sich bei uns beschwert, Dick kann sich jetzt mit Scheiße in neun verschiedenen Geschmacksrichtungen rumschlagen.« Ein humorloses Grinsen verzieht sein Gesicht. »Sie haben den dämlichen kleinen Juden ganz schön zugerichtet.«

»Was sind das für Leute?«, fragt Landsman. »Sergeant, was zum Teufel sind das für Juden da draußen?«

»Das ist ein Erholungszentrum«, sagt der Sergeant mit demselben Mangel an Emotion, mit dem Dr. Rau Landsman Fragen zu seinem Alkoholismus gestellt hat. »Für missratene junge Juden, die Verbrechen und Drogen anheimgefallen sind. So habe ich es jedenfalls gehört. Schlafen Sie schön, Detective.«

Als der Indianer-Nos gegangen ist, krabbelt Landsman ins Bett und zieht sich die Decke über den Kopf, und ehe er sich zusammenreißen kann, ehe er Zeit hat, etwas zu fühlen oder zu wissen, dass er etwas fühlt, reißt sich ein Schluchzen aus einer tiefen Nische und erfüllt seine Luftröhre. Die in seinen Augen brennenden Tränen sind wie der Tremor vom Alkohol. Sie sind sinnlos, und er scheint sie nicht in den Griff zu bekommen. Er drückt sich das Kopfkissen aufs Gesicht und fühlt zum ersten Mal, wie völlig allein Naomi ihn gelassen hat.

Um sich zu beruhigen, denkt er an Mendel Shpilman und das Bett in Zimmer 208. Er stellt sich vor, wie es ist, in der tapezierten Zelle auf dem schmalen Bett zu liegen und die Züge von Aljechins zweiter Partie gegen Capablanca 1927 in Buenos Aires durchzugehen, während das Smack das Blut zu einer Zuckerflut und das Hirn zu einer schleckenden Zunge macht. Einst hatte man Mendel den Anzug des Tzaddik ha-Dor angepasst, dann stellte er fest, dass es eine Zwangsjacke war. So weit, so gut. Dann viele vergeudete Jahre. Für Drogengeld von einem Schachspiel zum nächsten. Billige Absteigen. Sich vor dem inkompatiblen Schicksal verstecken, das seine Gene und sein Gott für ihn vorgesehen haben. Eines Tages dann spürt man ihn auf, staubt ihn ab und bringt ihn nach Peril Strait. Ein Ort mit einem Arzt, eine von den großzügigen Spenden der Barrys, Marvins und Susies des amerikanischen Judentums gebaute Einrichtung, wo man ihn in Ordnung bringen und wieder zusammenflicken will. Warum? Weil sie ihn brauchen. Weil sie ihn wieder dem praktischen Nutzen zuführen wollen. Und er will mitmachen, mit diesen Männern. Er willigt ein. Naomi hätte Shpilman und seine Begleiter nie geflogen, wenn sie dabei irgendeine Art von Zwang gespürt hätte. Für Shpilman sprang also etwas dabei heraus — Geld, das Versprechen auf Heilung oder erneuten Ruhm, Versöhnung mit seiner Familie, eine abschließende Auszahlung in Drogen. Aber als Shpilman in Peril Strait eintrifft, um sein neues Leben zu beginnen, sorgt irgendetwas dafür, dass er seine Meinung ändert. Irgendetwas erfährt, erkennt oder sieht er. Vielleicht bekommt er auch einfach nur kalte Füße. Und wendet sich hilfesuchend an die eine Frau, die allen möglichen Menschen, meistens den verlorensten, die einzige Freundin in der Welt war. Und wieder fliegt Naomi ihn hinaus, ändert noch in der Luft ihren Flugplan und besorgt ihm bei der Tochter des Kuchenmanns eine Mitfahrmöglichkeit zu einem billigen Motel. Als Lohn für Naomis Hybris lassen die geheimnisvollen Juden ihr Flugzeug abstürzen. Dann machen sie sich auf die Jagd nach Mendel Shpilman, der wieder untergetaucht ist. Sich vor seinen vielen Identitäten versteckt. Der in seinem Zimmer im Zamenhof liegt, bäuchlings auf dem Bett, zu weit fort, um noch über Aljechin, Capablanca und Damenindisch nachzudenken. Zu weit fort, um das Klopfen an der Tür zu hören.