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Er zieht sich aus, stellt sich unter die Dusche und legt sich dann mit weit aufgerissenen Augen hin und kramt Erinnerungen — seine kleine Schwester in ihrer Super Cub, Bina im Sommer 1986 — aus kleinen Plastiktüten. Er betrachtet sie, als seien sie Notationen vergangener Schachmatts oder Meisterzüge in einem verstaubten, aus der Bibliothek entwendeten Buch. Nach einer halben Stunde dieser sinnvollen Betätigung steht er auf, zieht ein sauberes Hemd und eine Krawatte an und macht sich auf zur Dienststelle, um den Tatortbericht zu verfassen.

5.

Landsman lernte das Schachspiel durch seinen Vater und seinen Onkel Hertz hassen. Die beiden Schwager waren Freunde aus Kindertagen in Lodz, wo sie dem Jugendschachclub Makkabi angehörten. Landsman weiß noch, wie sie sich über jenen Tag im Sommer 1939 unterhielten, als der große Tartakower den Jungs von Makkabi einen Besuch abstattete, um ihnen eine Kostprobe seines Könnens zu geben. Savielly Tartakower war polnischer Staatsbürger, internationaler Großmeister und ein Original, berühmt für seinen Ausspruch: »Fehler sind da, um gemacht zu werden.« Auf dem Rückweg von Paris, wo er für eine französische Schachzeitschrift von einem Turnier berichtet hatte, besuchte er den Leiter des Jugendschachclubs Makkabi, einen alten Kameraden aus seiner Zeit an der russischen Front in Franz Josefs Armee. Auf Drängen des Leiters bot Tartakower nun dem besten jungen Spieler des Clubs, Isidor Landsman, eine Partie an.

Gemeinsam nahmen sie Platz, der stramme Kriegsveteran in seinem Maßanzug mit der schroffen guten Laune und der stammelnde Fünfzehnjährige mit dem nach außen schielenden Auge, dem zurückweichenden Haaransatz und einem Schnurrbart, der oft fälschlicherweise für einen rußigen Daumenabdruck gehalten wurde. Tartakower wählte Schwarz. Landsmans Vater entschied sich für die Englische Eröffnung. In der ersten Stunde spielte Tartakower unaufmerksam, ja autonom. Er ließ seinen berühmten Schachmotor im Leerlauf brummen und verrichtete Dienst nach Vorschrift. Nach vierunddreißig Zügen bot Tartakower Landsmans Vater freundlich spöttelnd ein Remis an. Landsmans Vater musste dringend pinkeln, seine Ohren summten, er schob das Unvermeidliche nur vor sich her. Doch wies er das Angebot zurück. Sein Spiel basierte nun lediglich auf Instinkt und Verzweiflung. Er reagierte, lehnte jeden Austausch ab, sein Vorteil bestand einzig und allein in seiner Sturheit und dem animalischen Gespür für das Brett. Nach siebzig Zügen, vier Stunden und zehn Minuten wiederholte Tartakower sein früheres Angebot, nicht mehr ganz so freundlich. Gequält vom Tinnitus und kurz davor, sich in die Hose zu machen, nahm Landsmans Vater an. In späteren Jahren erzählte er manchmal, dass sein Hirn, dieses sonderbare Organ, sich nie so recht von jener Tortur erholt hätte. Doch sollten natürlich noch schlimmere Torturen kommen.

»Das war alles andere als vergnüglich«, soll Tartakower zu Landsmans Vater gesagt haben, als er sich vom Stuhl erhob. Der junge Hertz Shemets mit seinem untrüglichen Blick für die Schwächen anderer Menschen hatte ein Zittern in Tartakowers Hand bemerkt, die ein eilig herbeigeholtes Glas Tokajer hielt. Dann zeigte Tartakower auf den Schädel von Isidor Landsman. »Aber es ist sicher angenehmer, als darin leben zu müssen.«

Keine zwei Jahre später trafen Hertz Shemets, seine Mutter und seine kleine Schwester Freydl mit der ersten Welle Galizianer Siedler auf Baranof Island in Alaska ein. Sie kamen mit der berüchtigten Diamond, einem Truppentransporter aus dem Ersten Weltkrieg, den Innenminister Ickes hatte entmotten lassen und, so will es die Legende, zur zweifelhaften Ehre des verstorbenen Anthony Dimond umtaufen lassen, dem nicht abstimmungsberechtigten Abgeordneten des Territoriums Alaska im Repräsentantenhaus. (Der Abgeordnete Dimond hatte vorgehabt, das Gesetz zur Besiedlung Alaskas im Ausschuss zu kippen, doch dann hatte auf einer Kreuzung in Washington, D. C., ein betrunkener, taxifahrender Schlemiel namens Denny Lanning interveniert und war so zum ewigen Helden der Juden von Sitka geworden.) Dünn, blass, verwirrt ging Hertz Shemets von Bord der Diamond, stieg aus der Dunkelheit und dem Muff von Suppe und rostigen Pfützen in die saubere, kühle Würze der Kiefern von Sitka. Zusammen mit seiner Familie und seinem Volk wurde er gemäß den Bestimmungen des Siedlungsgesetzes von 1940 wie ein Zugvogel nummeriert, geimpft, entlaust und etikettiert. In einer Pappschachtel trug er seinen »Ickes-Pass« mit sich herum, ein besonderes Behelfsvisum aus besonders verschmierter Tinte auf besonders dünnem Papier.

Er konnte nirgends anders hin. So stand es in großen Buchstaben vorne auf dem Ickes-Pass. Ihm war nicht gestattet, nach Seattle oder San Francisco zu reisen, nicht einmal nach Juneau oder Ketchikan. Die bisherigen Quoten für jüdische Einwanderer in die Vereinigten Staaten blieben weiterhin gültig. Selbst nach dem frühzeitigen Ableben Dimonds konnte das Gesetz dem amerikanischen Staatskörper nur mit einem gewissen Druck und unter Zuhilfenahme von Schmiermitteln aufgezwungen werden, und zu dieser Vereinbarung gehörte die Einschränkung jüdischer Bewegungsfreiheit.

Unmittelbar nach den Juden aus Deutschland und Österreich wurden die Shemets-Familie und die übrigen Galizianer nach Camp Slattery abgeschoben, ein Lager in einem Sumpfgebiet, zehn Meilen entfernt von der leidgeprüften, halb verfallenen Stadt Sitka, Hauptstadt der alten Kolonie Russisch-Alaska. In zugigen Blechhütten und Baracken durchlitten die Siedler eine gründliche sechsmonatige Eingewöhnungsphase unter dem Elitekommando von fünfzehn Milliarden Mücken, bestellt vom amerikanischen Innenministerium. Hertz wurde zum Straßenbau zwangsverpflichtet und dann der Kolonne zugewiesen, die den Flughafen von Sitka baute. Er verlor zwei Backenzähne, als er in einem Senkkasten tief im Hafenschlamm von Sitka arbeitete und von einer Schaufel getroffen wurde. Wann immer man in späteren Jahren mit ihm über die Tshernovits-Brücke fuhr, rieb er sich den Kiefer, und die strengen Augen in seinem scharf geschnittenen Gesicht bekamen einen wehmütigen Ausdruck. Freydl wurde in eine eiskalte Scheune zur Schule geschickt, auf deren Dach unentwegt Regen prasselte. Der Mutter wurden die Grundlagen der Landwirtschaft beigebracht, der Einsatz von Pflug, Düngemittel und Bewässerungsschläuchen. In Broschüren und auf Plakaten wurde die knappe Wachstumsperiode in Alaska als Allegorie auf die kurze Dauer ihres Aufenthalts dargestellt. Mrs. Shemets sollte sich die Ansiedlung in Sitka wie einen Keller oder ein Gewächshaus vorstellen, in dem sie und ihre Kinder, Blumenzwiebeln gleich, den Winter über untergebracht waren, bis die Heimaterde so weit aufgetaut war, dass sie dorthin verpflanzt werden konnten. Niemand vermochte sich vorzustellen, dass der Boden Europas so dick mit Salz und Asche bedeckt sein würde.

Trotz der landwirtschaftlichen Bemühungen wurden die von der Siedlungsvereinigung Sitka angeregten bescheidenen Gehöfte und Bauernhof-Kooperativen niemals Wirklichkeit. Japan griff Pearl Harbor an. Die Aufmerksamkeit des Innenministeriums verlagerte sich auf dringendere strategische Probleme wie Ölreserven und Bergbau. Zum Abschluss des Halbjahres am »Ickes-College« bekam die Familie Shemets wie die meisten ihrer Mitflüchtlinge einen Tritt versetzt, sie sollten sich nun allein durchs Leben schlagen. Genau wie der Abgeordnete Dimond vorausgesagt hatte, zogen sie nach Norden in die schroffe, neuerdings florierende Stadt Sitka. Hertz studierte Strafrecht am neuen Technischen Institut Sitka und wurde nach seinem Abschluss 1948 als Fachkraft von der ersten großen amerikanischen Kanzlei angestellt, die in Sitka eine Zweigstelle eröffnete. Seine Schwester Freydl, die Mutter von Landsman, gehörte zu den ersten Pfadfinderinnen der Siedlung.