»Du musst nicht klopfen, Berko«, sagt Landsman. »Wir sind hier im Knast.«
Es klappern Schlüssel, dann wirft der Indianer-Nos die Tür auf. Hinter ihm steht Berko Shemets. Er hat sich wie für eine Safari in den tiefsten Dschungel gekleidet: Jeans, Flanellhemd, hohe geschnürte Wanderstiefel aus Leder, eine gräulich braune Anglerweste mit zweiundsiebzig Taschen, Innentaschen und Inneninnentaschen. Auf den ersten Blick sieht er fast aus wie ein typischer, wenn auch ziemlich großer alaskischer Waldmensch. Man kann das kleine Abzeichen mit den Polostöcken kaum erkennen, das sein Hemd ziert. Berkos sonst unauffällige Jarmulke ist einem übergroßen, bestickten, zylindrischen Exemplar gewichen, einem Minifez. Wenn Berko ins Indianerland reist, trägt er den Juden immer ein bisschen dick auf. Landsman kann es von seinem Platz aus nicht genau erkennen, aber wahrscheinlich hat sein Kollege auch die Handschellen mit dem Davidsstern dabei.
»Tut mir leid«, sagt Landsman. »Ich weiß, es tut mir immer leid, aber diesmal könnte es mir nicht mehr leidtun, glaub mir.«
»Darum kümmern wir uns später«, sagt Berko. »Komm, er will mit uns sprechen.«
»Wer?«
»Der Kaiser der Franzosen.«
Landsman erhebt sich vom Bett, geht zum Waschbecken und wirft sich ein wenig Wasser ins Gesicht.
»Kann ich gehen?«, fragt er den indianischen Nos, als er durch die Zellentür geht. »Sagen Sie mir, dass ich gehen kann?«
»Sie sind ein freier Mann«, sagt der Nos.
»Ist ja nicht zu fassen«, sagt Landsman.
33.
Von seinem Eckbüro im Erdgeschoss des Polizeireviers von St. Cyril aus hat Inspector Dick einen guten Blick auf den Parkplatz. Auf sechs Müllcontainer, die wie eiserne Jungfrauen mit Metallplatten und Stahlbändern vor Bären geschützt sind. Auf eine subalpine Wiese hinter den Containern und dann auf die schneebedeckte Ghettomauer, die ihm die Juden vom Hals hält. Dick hängt in seinem Schreibtischstuhl im Maßstab 2:3, die Arme verschränkt, das Kinn auf der Brust, und starrt durch das Flügelfenster. Nicht auf die Berge oder auf die Wiese, gräulich grün im späten Licht, betupft mit Nebelbäuschchen, nicht einmal auf die gepanzerten Müllcontainer. Sein Blick wandert nicht über den Parkplatz hinaus — nicht weiter als bis zu seiner 1951er Royal Enfield Crusader. Landsman kennt den Ausdruck in Dicks Gesicht. Es ist der Ausdruck, der sich bei Landsman einstellt, wenn er seinen Chevelle Super Sport oder das Gesicht von Bina Gelbfish betrachtet. Die Miene eines Mannes, der das Gefühl hat, in die falsche Welt geboren zu sein. Etwas ist schiefgelaufen; er ist nicht dort, wo er hingehört. Immer wieder spürt er, dass sein Herz — gleich einem Drachen in Telefonleitungen — an Dingen hängen bleibt, die ihm eine Heimat versprechen oder den Weg dorthin weisen könnten. Zum Beispiel ein in seiner fernen Kindheit gebautes amerikanisches Auto oder ein Motorrad, das einst dem zukünftigen König Englands gehörte, oder das Gesicht einer Frau, die mehr wert ist, geliebt zu werden als er.
»Ich hoffe, er hat was an«, sagt Dick, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Das sehnsüchtige Flackern in seinen Augen erlischt. In seinem Gesicht passiert jetzt überhaupt nichts mehr. »Weil das, was ich da im Wald gesehen habe, mein Gott, Landsman, ich hätte fast mein Scheiß-Bärenfell abfackeln müssen.« Er tut, als erschaudere er. »Die Tlingit-Nation zahlt mir nicht ansatzweise genug Entschädigung, um dich in Unterhose zu sehen.«
»Die Tlingit-Nation«, sagt Berko Shemets und spricht es aus wie den Namen eines berüchtigten Coups oder wie die Behauptung, jemand habe Atlantis geortet. Er drängt Dicks Büro seine massige Gestalt auf. »Ach, dann wird hier noch Gehalt gezahlt? Weil Meyer eben meinte, vielleicht auch nicht.«
Jetzt dreht Dick sich um, langsam und träge, und schürzt einen Teil seiner Oberlippe, um mehrere Schneide- und Eckzähne zu entblößen.
»Johnny, der Jude«, sagt er. »So, so, mit Mützchen und allem. Und scheinbar hast du in letzter Zeit reichlich Gelegenheit gehabt, über den einen oder anderen Filipino-Donut den Segen zu sprechen.«
»Leck mich, Dick, du antisemitischer kleiner Zwerg.«
»Leck mich, Johnny, du und deine bekackten Anspielungen auf meine Integrität als Polizeibeamter.«
In seinem rostigen, aber reichhaltigen Tlingit drückt Berko den Wunsch aus, Dick eines Tages tot und ohne Schuhe im Schnee liegen zu sehen.
»Geh kacken ins Meer«, sagt Dick in tadellosem Jiddisch.
Sie treten aufeinander zu, und der große Mann nimmt den kleinen in den Arm. Sie hauen sich gegenseitig auf den Rücken, tasten nach den tuberkulösen Stellen ihrer langsam sterbenden Freundschaft, in den Tiefen dröhnt ihre alte Feindschaft wie eine Trommel. In dem Jahr des Elends, das Berkos Übertritt zur jüdischen Seite seiner Vorfahren voranging, bevor seine Mutter von einer flüchtenden Wagenladung randalierender Juden zerquetscht wurde, entdeckte der junge John Bear das Basketballspiel für sich und für Wilfred Dick, damals ein eins fünfundzwanzig großer Aufbauspieler. Es war Hass auf den ersten Blick, jener großartige, romantische Hass, der bei dreizehnjährigen Jungen nicht von Liebe zu unterscheiden ist oder ihr am nächsten kommt.
»Johnny Bear«, sagt Dick. »Verdammte Scheiße, du Riesenjude!«
Berko zuckt mit den Schultern und reibt sich betreten den Nacken, sodass er aussieht wie ein dreizehnjähriger Centerspieler beim Basketball, an dem gerade etwas Kleines, Hässliches auf direktem Weg zum Korb vorbeihuscht.
»Ja, hey, Willie D.«, sagt er.
»Setz dich, du fetter Hurensohn«, sagt Dick. »Du auch, Landsman, mit den ekligen Flecken in der Arschritze.«
Berko muss grinsen, und alle setzen sich — Dick auf seine Seite des Schreibtischs, die jüdischen Polizisten auf die andere. Die beiden Besucherstühle haben Normalmaß, ebenso die Bücherregale und alles andere im Büro, nur nicht Dicks Schreibtisch und sein Stuhl. Die Wirkung ist zerrspiegelartig, übelkeitserregend. Vielleicht ist es aber nur ein weiteres Symptom des Alkoholentzugs. Dick holt seine schwarzen Zigaretten hervor und schiebt Landsman über den Tisch einen Aschenbecher zu. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Füße auf den Schreibtisch. Die Ärmel seines Woolrich-Hemds sind hochgekrempelt. Seine Unterarme sind sehnig und braun. Krauses graues Haar späht aus seinem offenen Kragen, und seine schicke Brille steckt zusammengeklappt in der Hemdtasche.
»Es gibt so viele Leute, denen ich jetzt lieber gegenübersitzen würde«, sagt er. »Um genau zu sein: Millionen.«
»Dann mach doch die Augen zu«, schlägt Berko vor.
Dick gehorcht. Seine Augenlider sind dunkel und glänzend, sie schimmern bläulich.
»Landsman«, sagt er, als genieße er das Blindsein, »wie war dein Zimmer?«
»Die Bettdecke roch stärker nach Lavendelwasser, als mir lieb gewesen wäre«, sagt Landsman. »Aber sonst kann ich mich wirklich nicht beschweren.«
Dick öffnet die Augen.
»Es war mein Glück als Gesetzesvertreter in diesem Reservat, in all den Jahren relativ wenig mit Juden zu tun zu haben«, beginnt er. »Ah, und bevor einer von euch wegen meines angeblichen Antisemitismus seinen Schließmuskel zukneift, möchte ich jetzt nur kurz vorausschicken, dass es mir wichsscheißegal ist, ob ich eure Schweineschisserärsche beleidige oder nicht, unterm Strich würde ich sogar sagen, ich hoffe es. Der fette Kerl da weiß ganz genau, sollte er wenigstens, dass ich alle Menschen gleichermaßen hasse, ohne jede Bevorzugung und ohne Rücksicht auf Konfession oder DNA.«