Die Tür geht auf, und eine breite junge Frau kommt herein, wiederum nur halb so groß wie ihr Chef. Sie trägt den Bärenfellumhang, als enthalte er den nur fotografisch sichtbaren Rückstand des auferstandenen Leichnams Jesu Christi. Dick springt auf, greift sich das Fell und bindet es mit einer Grimasse, als befürchte er Verseuchung, mit dem Riemen um den Hals.
»Such dem da einen Mantel und einen Hut«, sagt er, mit dem Daumen auf Landsman weisend. »Irgendwas, das schön stinkt, nach Lachsgedärmen oder Muskateller. Nimm den Mantel von Marvin Klag, der liegt besoffen in A7.«
34.
Im Sommer 1897 versetzten Mitglieder der Bergsteigergruppe des Italieners Abruzzi, frisch zurück von ihrer Bezwingung des Mt. Saint Elias, die Tresenhocker und Telegraphisten in der Stadt Yakutat in helle Aufregung. Sie kehrten von den Hängen des zweithöchsten alaskischen Gipfels mit der Behauptung zurück, eine Stadt im Himmel gesehen zu haben. Straßen, Häuser, Türme, Bäume, flanierende Menschenmassen, qualmende Schornsteine, eine großartige Kultur inmitten der Wolken. Ein gewisser Thornton aus der Gruppe reichte eine Fotografie herum; die auf Thorntons verschwommener Platte festgehaltene Stadt wurde später als Bristol in England identifiziert, rund zweitausendfünfhundert transpolare Meilen entfernt. Zehn Jahre später verspielte der Forschungsreisende Peary ein Vermögen, als er den Versuch machte, Crocker Land zu finden, ein Land voller stolzer Gipfel, das er und seine Männer auf einer früheren Reise gen Norden hoch oben im Himmel erblickt haben wollten. Fata Morgana hieß so etwas. Eine Spiegelung, hervorgerufen durch Witterung und Licht und die Phantasie von Männern, die mit Beschreibungen des Himmels aufwuchsen.
Meyer Landsman sieht Kühe, weiße Milchkühe mit roten Flecken, die wie Engel über breite grüne Triften ziehen.
Die drei Polizisten sind nach Peril Strait hinausgefahren, damit Dick sie mit seiner fragwürdigen Vision beeindrucken kann. Zwei Stunden lang waren sie ins Führerhaus von Dicks Pick-up gezwängt, haben geraucht und sich gegenseitig beschimpft, während sie über die Tribal Route 2 rumpelten. Zurück durch Meilen tiefen Waldes. Schlaglöcher in der Größe von Badewannen. In vandalistischen Mengen stürzte Regen auf die Windschutzscheibe. Wieder durch das Dorf Jims, eine Ansammlung von Stahldächern entlang eines Meeresarms, die Häuser durcheinandergewürfelt wie die zehn letzten Dosen mit Bohnen im Regal eines Lebensmittelgeschäfts, kurz vor dem Hurrikan. Hunde und Jungen und Basketballkörbe, ein alter Pritschenwagen, dessen Form von Unkraut und stacheliger Krähenbeere nachgebildet wird, eine Chimäre aus Lastwagen und Laub. Gleich hinter der fahrbaren Kirche der Pfingstbewegung wich die Tribal Route einer Piste aus Sand und Schotter. Fünf Meilen weiter entwickelte sie sich noch weiter zurück in einen in den Modder geschnittenen Strich. Dick fluchte und kämpfte mit dem Schaltknüppel, während sein großer GMC auf den Wogen aus Schlamm und Kies trieb. Bremse und Gaspedal waren für einen Mann von seiner Statur ausgelegt, und er handhabte sie wie Horowitz, der durch einen Sturm von Liszt segelt. Bei jedem Schlagloch wurde eine kritische Stelle in Landsman von Berkos schwankender Masse eingedrückt.
Als kein Schlamm mehr da war, stiegen sie aus dem Pick-up und marschierten durch dichtgepflanzte Hemlocktannen. Der Boden war rutschig, der Weg eher ein Vorschlag des zerfetzten gelben Polizeiabsperrbands in den Bäumen. Nach zehn platschenden, glucksenden Minuten endete der Pfad vor einem elektrischen Zaun inmitten dichten Nebels, der zeitweise in richtigen Regen übergehen wollte. Tief in die Erde getriebene Betonpylone, straffe, gleichmäßige Drähte. Ein sorgfältig gezogener Zaun, ein guter Zaun. Für Juden eine brutale Geste auf Indianerland, eine Geste ohne Beispiel oder Berechtigung, soweit Landsman weiß.
Auf der anderen Seite des elektrischen Zauns schimmert die Fata Morgana: Gras. Weideland, fett und glänzend. Einhundert hübsche, gefleckte Rinder mit zarten Köpfen.
»Kühe«, sagt Landsman, und das Wort klingt wie ein Muh des Zweifels.
»Sehen aus wie Milchkühe«, sagt Berko.
»Das sind Ayrshires«, sagt Dick. »Als ich das letzte Mal hier war, hab ich ein paar Fotos gemacht. Ein Professor für Landwirtschaft unten in Davis, Kalifornien, hat sie für mich analysiert. ›Eine schottische Rasse‹.« Dick zieht seine Stimme durch die Nase, äfft den kalifornischen Professor nach. »Bekannt für ihre Robustheit und ihre Fähigkeit, in nördlichen Breiten zu gedeihen.«
»Kühe«, sagt Landsman noch einmal. Es will ihm einfach nicht gelingen, das unheimliche Gefühl von Deplatzierung, von Luftspiegelung abzuschütteln, das Gefühl, etwas zu sehen, was nicht da ist. Etwas, das er dennoch kennt, das er erkennt, eine halberinnerte Wirklichkeit aus den Geschichten vom Himmel oder aus seiner eigenen Vergangenheit. Seit den Tagen auf dem »Ickes College«, als die Alaskan Development Corporation Traktoren, Samen und Düngesäcke an die Bootsladungen voller Flüchtlinge verteilte, haben die Juden des Distrikts eine jüdische Farm erträumt und erzweifelt. »Kühe in Alaska.«
Die Generation der Eisbären erlebte zwei große Enttäuschungen. Die erste, die dümmere, entlud sich, als es im sagenumwobenen Norden nicht Eisberge, Eisbären, Walrosse, Pinguine, Tundra, Schnee in rauen Mengen und vor allem keine Eskimos gab. Tausende von Geschäften in Sitka tragen noch heute verbitterte, phantasievolle Namen wie Walross-Apotheke, Haarteile Eskimo oder Nanook’s Taverne.
Die zweite Enttäuschung wurde in beliebten Liedern aus jener Epoche gefeiert, beispielsweise in »Ein grüner Käfig«. Die zwei Millionen Juden, die von Bord gingen, fanden keine wogende, mit Büffeln besprenkelte Prärie vor. Keine federgeschmückten Indianer zu Pferde. Nur eine Kette überfluteter Berge und fünfzigtausend Tlingit, die bereits den Großteil des flachen und nutzbaren Landes in Besitz hatten. Kein Platz, um sich auszudehnen, um zu wachsen, um etwas anderes zu tun, als genauso beengt wie in Vilna oder Lodz zusammenzuhocken. Die Grundbesitzträume von Millionen jüdischer Heimatloser, genährt durch Filme, leichte Literatur und die vom amerikanischen Innenministerium zur Verfügung gestellten Informationsbroschüren, erstarben fast unmittelbar nach der Ankunft. Alle paar Jahre erwarb die eine oder andere utopische Gesellschaft einen grünen Landstrich, der irgendwelche Träumer an eine Kuhwiese erinnerte. Dann gründete man dort eine Kolonie, importierte Vieh, setzte ein Manifest auf. Und dann begannen das Klima, die Märkte und die Prise Verhängnis, die das jüdische Leben stets durchzieht, ihre Wirkung zu entfalten. Die Traumfarm welkte dahin und ging ein.
Jetzt hat Landsman das Gefühl, diesen alten Traum vor sich zu sehen, glänzend und grünend. Ein Trugbild des alten Optimismus, die Hoffnung auf eine Zukunft, mit der er aufwuchs. Die Zukunft selbst, so scheint es ihm jetzt, sie selbst war die Fata Morgana.
»Die eine da ist irgendwie komisch«, sagt Berko. Er blickt durch das Fernrohr, das Dick mitgenommen hat, und Landsman hört, wie etwas an Berkos Stimme zerrt wie ein Fisch am Ende der Leine.
»Gib mal«, sagt Landsman, nimmt das Fernglas und hält es vor die Augen. Er tut sein Bestes, aber er sieht nichts als Kühe. »Komisch wie: sie bringt dich zum Lachen?«
»Die da. Bei den beiden da drüben, die in die andere Richtung guckt.«
Berko führt das Glas mit schroffer Hand, richtet es auf eine Kuh, deren gesprenkeltes Fell vielleicht von einem satteren Rot ist als das ihrer Schwestern, von einem strahlenderen Weiß, deren Kopf kräftiger ist, weniger damenhaft. Wie gierige Finger rupfen ihre Lippen am Gras.