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Landsman mustert das gewaltige Originallanghaus im trockenen Dickicht von Brombeerrosenranken und Teufelskeule, eine bunt bemalte Ruine. Tatsächlich ist nichts an dem Langhaus original. Hertz Shemets baute es mit Hilfe von zwei indianischen Schwägern, seinem Neffen Meyer und seinem kleinen Sohn Berko im Sommer, nachdem der Junge auf die Adler Street gezogen war. Er baute es aus Spaß, ohne den Plan, es zu einem Ausflugsziel zu machen. Das versuchte er erst nach seiner Enteignung, leider vergeblich. In jenem Sommer war Berko fünfzehn und Landsman zwanzig. Der Jüngere formte jede Seite seiner Persönlichkeit so, dass sie den Vorgaben Landsmans entsprach. Zwei volle Monate widmete er der Aufgabe, die Stichsäge so wie Landsman zu betätigen, mit einer auf der Lippe hüpfenden Papiros, deren Rauch ihm in den Augen brannte. Damals hatte sich Landsman schon entschlossen, die Aufnahmeprüfung bei der Polizei zu machen, und in jenem Sommer erklärte Berko dieses ebenfalls zu seiner Ambition. Wenn Landsman davon gesprochen hätte, eine Schmeißfliege zu werden, hätte auch Berko eine Möglichkeit gefunden, den Dung zu lieben.

Wie die meisten Polizisten segelt Landsman doppelwandig gegen das Unglück an, geschützt gegen Seegang und Sturm. Es sind die Untiefen, um die er sich sorgen muss, die Haarrisse, die kleinen Launen des Drehmoments. Die Erinnerung an jenen Sommer beispielsweise, oder der Gedanke, dass er schon längst die Geduld eines Jungen erschöpft hat, der einst tausend Jahre gewartet hätte, um eine Stunde lang mit ihm gemeinsam mit dem Luftgewehr Büchsen vom Zaun zu schießen. Der Anblick des Langhauses bricht eine kleine, bisher noch ungebrochene Facette in Landsmans Herz. Alles, was sie hier in jener kurzen Minute in diesem Winkel der Welt gemacht haben, hat sich im Dorngestrüpp von Brombeerrose und Vergessen aufgelöst.

»Berko«, sagt er, als sie durch den halb gefrorenen Morast des lausigsten Indianerreservats der Welt knirschen. Er fasst seinen Cousin am Ellenbogen. »Tut mir leid, dass ich so durch den Wind war.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Meyer«, sagt Berko. »Das ist nicht deine Schuld.«

»Mir geht’s jetzt besser. Ich bin wieder da«, sagt Landsman, und kurz klingen die Worte in seinen Ohren wahr. »Ich weiß nicht, wie das kam. Vielleicht durch die Unterkühlung. Oder durch diese ganze Sache mit Shpilman. Oder, gut, vielleicht auch dadurch, dass ich die Finger vom Sprit gelassen habe. Aber ich bin wieder so wie früher.«

»Hm.«

»Glaubst du das nicht?«

»Doch, Meyer.« Berko könnte genauso gut einem Kind oder einem Irren beipflichten. Er könnte genauso gut gar nicht beipflichten. »Du kommst mir ganz normal vor.«

»Ausdrückliche Unterstützung.«

»Ich will jetzt nicht darüber sprechen, ja, macht das was? Ich will da jetzt einfach nur rein, dem Alten unsere Fragen vorsetzen und dann schnell zurück zu Ester-Malke und den Jungs. Kommst du damit klar?«

»Sicher, Berko. Natürlich.«

»Danke.«

Sie stapfen über erstarrten Schlick aus Schlamm, Schotter und gefrorenen Pfützen, mit einem dünnen Trommelfell aus Eis bespannt. Eine Comictreppe, zersplittert und wackelig, führt zu einer wettergrauen Zedernholztür. Sie hängt schief in den Angeln und ist mit dicken Gummistreifen provisorisch auf den Winter vorbereitet.

»Als du meintest, es wäre nicht meine Schuld«, fängt Landsman an.

»Mann! Ich muss pissen.«

»Das bedeutet doch, dass du mich für verrückt hältst. Für geisteskrank. Dass ich nicht verantwortlich bin für das, was ich tue.«

»Ich klopfe jetzt an diese Tür, Meyer.«

Dann klopft er zweimal, heftig genug, um die Angeln zu gefährden.

»Ungeeignet, eine Dienstmarke zu tragen«, sagt Landsman und wünscht sich von Herzen, das Thema fallen lassen zu können. »In anderen Worten.«

»Das hat deine Exfrau gesagt, nicht ich.«

»Aber du widersprichst ihr nicht.«

»Was weiß ich denn über Geisteskrankheiten?«, sagt Berko. »Ich bin nicht derjenige, der festgenommen wurde, weil er drei Stunden entfernt von zu Hause nackt durch den Wald lief, nachdem er einem Mann mit einem eisernen Bettrahmen den Schädel eingeschlagen hat.«

Hertz Shemets kommt an die Tür, sein Unterkiefer ist so frisch rasiert wie ein Blutstropfen. Er trägt einen grauen Flanellanzug über einem weißen Hemd und einer mohnroten Krawatte. Er riecht nach Vitamin B, Sprühstärke, geräuchertem Fisch. Er ist winziger denn je, zappelig wie eine Holzfigur an einem Stock.

»Alter Junge!«, ruft er Landsman zu und bricht ein paar Knochen in der Hand seines Neffen.

»Siehst gut aus, Onkel Hertz«, sagt Landsman. Bei näherem Hinschauen entdeckt er, dass der Anzug an den Ellenbogen und Knien glänzt. Die Krawatte legt Zeugnis von einer Suppe ab und wurde nicht über den weichen Kragen eines Hemdes geschlungen, sondern um ein weißes Pyjamaoberteil, hastig in die Hose gestopft. Aber Landsman hat gut kritisieren. Er trägt seinen Notfallanzug, herausgerissen aus der Spalte hinten im Kofferraum und glattgezogen, ein schwarzes Teil aus Viskose-Wollgemisch mit Goldknöpfen, die wie römische Münzen aussehen sollen. Einmal lieh er sich den Anzug in letzter Minute für eine Beerdigung, an der teilzunehmen er vorgehabt, aber vergessen hatte, lieh ihn sich von einem unglückseligen Spieler namens Glucksman. Der Anzug bringt es zustande, begräbnisfähig und fröhlich zugleich auszusehen, er hat hartnäckige Falten und riecht nach Detroiter Kofferraum.

»Danke für die Warnung«, sagt Onkel Hertz und lässt Landsmans ruinierte Hand los.

»Der da hätte dich lieber überrascht«, sagt Landsman und nickt Berko zu. »Aber ich weiß, dass du gerne nach draußen gehst und etwas für uns erlegst.«

Onkel Hertz legt die Handflächen zusammen und verbeugt sich. Wie ein wahrer Einsiedler nimmt er seine Pflichten als Gastgeber sehr ernst. Wenn es nicht viel zu jagen gab, wird er etwas schön Marmoriertes aus der Tiefkühltruhe geholt und es mit Möhren, Zwiebeln und einer zerdrückten Handvoll Kräuter, die er anbaut und in der Hütte hinter dem Holzhaus trocknet, auf den Herd gestellt haben. Er wird dafür gesorgt haben, dass Eis für den Whisky und kaltes Bier für den Schmortopf da sind. Vor allem wird er sich rasiert und eine Krawatte umgebunden haben.

Der alte Mann sagt Landsman, er solle ins Haus gehen, und Landsman gehorcht ihm, sodass Hertz seinem Sohn allein gegenübersteht. Landsman schaut zu, ein interessierter Dritter, wie alle jüdischen Männer seit dem Moment, als Abraham Isaak hieß, sich auf den Berg zu legen und seinen pochenden Brustkorb vor dem Himmel zu entblößen. Der alte Mann streckt die Hand aus und greift nach dem Ärmel von Berkos Holzfällerhemd. Er rollt den Stoff zwischen den Fingern. Berko lässt die Prüfung mit aufrichtiger Leidensmiene über sich ergehen. Es muss ihn umbringen, das weiß Landsman, in etwas anderem als seinem besten italienischen Zwirn vor seinen Vater zu treten.

»Und, wo ist deine Holzfälleraxt?«, sagt der alte Mann schließlich.

»Keine Ahnung«, sagt Berko. »Vielleicht da, wo auch deine Schlafanzughose ist.«

Berko streicht die Falte glatt, die sein Vater in den Ärmel gekniffen hat. Er geht an dem alten Mann vorbei und tritt ins Haus.

»Arschloch«, sagt er fast lautlos. Innen kündigt er an, die Toilette besuchen zu müssen.

»Sliwowitz«, sagt der alte Mann und geht zu den Flaschen, eine gedrängte Skyline auf einem schwarzen Lacktablett wie eine Miniaturnachbildung von Shvartser-Yam. »Stimmt’s?«

»Wasser«, sagt Landsman. Als sein Onkel eine Augenbraue hebt, zuckt er mit den Achseln. »Hab einen neuen Arzt. Inder. Will, dass ich mit dem Trinken aufhöre.«

»Und seit wann hörst du auf Ärzte oder Inder?«

»Tue ich nicht«, gibt Landsman zu.

»Selbstbehandlung ist eine Landsman-Tradition.«

»Judesein auch«, sagt Landsman. »Und du siehst ja, was wir davon haben.«

»Seltsame Zeiten für Juden«, stimmt der alte Mann zu. Er wendet sich von der Bar ab und reicht Landsman ein Highballglas mit einer Zitronenscheibe als Jarmulke. Dann schenkt er sich ein großzügiges Glas Sliwowitz ein und hält es Landsman mit einem Ausdruck humorvoller Grausamkeit hin, den Landsman gut kennt und in dem er schon lange keinen Humor mehr erkennen kann.