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»Auf seltsame Zeiten«, sagt der Alte.

Er trinkt das Glas aus, und als er Landsman ansieht, glüht er wie ein Mann, der gerade etwas Geistreiches gesagt hat, über das der ganze Raum lacht. Landsman weiß, wie sehr es Hertz wehtun muss zu sehen, dass das Schiff, das er so viele Jahre mit all seinem Geschick und all seiner Kraft durch den Fluss gesteuert hat, nun immer näher an die Wasserfälle der Reversion herantreibt. Er gießt sich schnell ein zweites Glas ein und kippt es ohne jedes Zeichen von Vergnügen hinunter. Jetzt ist es an Landsman, die Augenbraue zu heben.

»Du hast deinen Arzt«, sagt Onkel Hertz. »Und ich habe meinen.«

Onkel Hertz’ Hütte ist ein einziger großer Raum mit einer Galerie, die sich über drei Wände zieht. Der Raum lässt einen über die Anatomie und Verletzlichkeit alles Lebenden grübeln; die gesamte Einrichtung und Dekoration besteht aus Horn, Bein, Sehnen, Fell und Pelz. Die Galerie erreicht man über einen steilen Aufstieg hinten, neben der Küchenzeile. In einer Ecke ist das Bett des alten Mannes, sauber gemacht. Neben dem Bett steht auf einem kleinen runden Tisch ein Schachbrett. Die Figuren sind aus Rosenholz und Ahorn. Einem der weißen Ahornspringer fehlt das linke Pferdeohr. Einer der schwarzen Rosenholzbauern hat eine helle Macke am Kopf. Das Brett wirkt vernachlässigt, chaotisch; zwischen den Figuren steht ein Inhalierstift von Wick, eine mögliche Bedrohung für den weißen Springer auf e 1.

»Ich sehe, du spielst die Menthol-Verteidigung«, sagt Landsman und dreht das Brett, um besser sehen zu können. »Fernschach?«

Hertz bedrängt Landsman, verströmt seinen Zwetschgenbrandatem, und die Unternote von Hering ist so ölig und stechend, dass man die kleinen Gräten regelrecht schmecken kann. Angerempelt kippt Landsman das Schachbrett um. Es klappert wie Knochen auf einem Teller.

»Diesen Zug hast du immer schon meisterhaft beherrscht«, sagt Hertz. »Die Landsman-Eröffnung.«

»Scheiße, Onkel Hertz, tut mir leid.«

Landsman kauert sich hin und tastet unter dem Bett des alten Mannes nach den Figuren.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt sein Onkel. »Ist schon gut. Das war keine Partie, ich hab nur rumprobiert. Ich spiele kein Fernschach mehr. Ich lebe und sterbe für das Opfer. Ich blende meinen Gegenspieler gerne mit einer verrückten, wunderschönen Kombination. Ganz schön schwer auf einer Postkarte. Kennst du diese Figuren?«

Hertz hilft Landsman, die Figuren in die Schachtel zurückzulegen, die ebenfalls aus Ahorn ist, ausgeschlagen mit grünem Samt. Den Inhalierstift schiebt er in seine Tasche.

»Nein«, sagt Landsman. Er war derjenige, der vor vielen Jahren bei einem Wutanfall die Meyer-Verteidigung spielte, die den weißen Springer das Ohr kostete. »Was glaubst du denn? Du hast sie ihm geschenkt.«

Auf dem Nachttisch neben dem Bett liegen fünf Bücher. Eine jiddische Übersetzung von Chandler. Eine französische Biographie von Marcel Duchamp. Ein Taschenbuchangriff auf die verschlagenen Pläne der Dritten Russischen Republik, im letzten Jahr in den USA erfolgreich. Ein Peterson-Handbuch für Meeressäuger. Und ein Buch namens Kampf original auf Deutsch von Emanuel Lasker.

Die Toilette wird gespült, dann folgt das Geräusch von Wasser, das über Berkos Hände rinnt.

»Auf einmal lesen alle Lasker«, sagt Landsman. Er nimmt das Buch in die Hand, schwer, schwarz, der Titel in vergoldeter Frakturschrift geprägt, und ist leicht überrascht zu sehen, dass es nichts mit Schach zu tun hat. Keine Zeichnungen, keine stilisierten Damen oder Springer, nur Seite um Seite dornige deutsche Prosa. »Also war der Mann auch Philosoph?«

»Das hielt er für seine wahre Berufung. Obwohl er ein Genie in Schach und höherer Mathematik war. Leider muss ich sagen, als Philosoph war er vielleicht doch kein so großes Genie. Warum, wer liest denn noch Emanuel Lasker? Den kennt doch inzwischen keiner mehr.«

»Das ist heute sogar noch wahrer als vor einer Woche«, sagt Berko, der seine Hände am Handtuch abtrocknet. Es zieht ihn zum Esstisch. Der große Holzblocktisch ist für drei Personen gedeckt. Die Teller sind aus emailliertem Blech, die Gläser aus Plastik, und die Messer haben Griffe aus Knochen und angsteinflößende Klingen, mit denen man die noch zuckende Leber aus dem Bauch eines Bären schneiden könnte. Auf dem Tisch stehen ein Krug Eistee und eine emaillierte Kaffeekanne. Das Mahl, das Hertz Shemets bereitet hat, ist reichhaltig, heiß und eindeutig elchlastig.

»Elchchili«, sagt der Alte. »Letzten Herbst habe ich das Fleisch durch den Wolf gedreht. Es war in einem Gefrierbeutel in der Tiefkühltruhe. Den Elch habe ich natürlich selbst erlegt. Eine Kuh, ein Tausendpfünder. Das Chili habe ich heute gemacht, es sind Kidneybohnen drin, ich hab auch noch eine Dose schwarze Bohnen reingetan, die ich herumliegen hatte. Dann war ich unsicher, ob es genug wäre, deshalb hab ich noch ein paar andere Sachen warm gemacht, die ich im Kühlschrank hatte. Das da ist Quiche Lorraine, das sind natürlich Eier mit Tomaten und Schinken, der Schinken ist vom Elch. Habe ich selbst geräuchert.«

»Die Eier sind auch vom Elch«, sagt Berko, den aufgeblasenen Tonfall seines Vaters perfekt nachahmend.

Der alte Mann weist auf eine weiße Glasschale, in der sich gleichförmige Fleischklöpse in einer rötlich braunen Soße drängeln.

»Schwedische Klopse«, sagt er. »Aus Elchfleisch. Das da ist kalter Elchbraten, falls jemand ein Sandwich möchte. Das Brot hab ich natürlich auch selbst gebacken. Und die Mayonnaise ist selbst gemacht. Mayonnaise aus dem Glas kann ich nicht ausstehen.«

Sie setzen sich, um mit dem einsamen Alten zu essen. Vor vielen Jahren war sein Esszimmer ein lebendiger Ort, der einzige Tisch auf diesen geteilten Inseln, an dem Indianer und Juden regelmäßig zusammensaßen, wo sie ohne Groll miteinander tafelten. Es gab kalifornischen Wein zu trinken, der wortreich vom alten Mann gerühmt wurde. Stille Typen, Glücksritter und der eine oder andere Geheimagent oder Lobbyist aus Washington mischten sich unter Totemschnitzer, schachspielende Penner und eingeborene Fischer. Der alte Hertz setzte sich den Sticheleien von Mrs. Pullman aus. Er war der Typ des tyrannischen alten Halsabschneiders, der sich eine Frau sucht, die ihn vor seinen Freunden ein wenig herunterputzt. Irgendwie ließ ihn das nur noch stärker erscheinen.

»Ich habe ein, zwei Anrufe getätigt«, sagt Onkel Hertz nach einigen Minuten schachspielähnlicher Konzentration auf das Essen. »Nachdem ihr angerufen und euch angemeldet habt.«

»Ja?«, sagt Berko. »Ein, zwei Anrufe.«

»Genau.« Der Alte hat so ein Grinsen oder eine grinsähnliche Mimik, bei der er allein die Oberlippe auf der rechten Seite hebt, nur eine halbe Sekunde, und einen gelben Schneidezahn blitzen lässt. Es sieht aus, als hätte er einen Angelhaken in der Lippe und jemand risse einmal kurz und kräftig an der Schnur. »Und ich habe erfahren, dass du anderen gehörig auf die Nerven gegangen bist, Meyerle. Unprofessionelles Verhalten. Unberechenbares Benehmen. Ausweis und Waffe verloren.«

Was Onkel Hertz auch sonst noch gewesen sein mag — vierzig Jahre lang war er vereidigter Gesetzesvertreter und hatte einen Bundesausweis in der Brieftasche. Auch wenn er seinen vorwurfsvollen Ton unter Wert verkauft, ist er unverkennbar. Er wendet sich seinem Sohn zu.

»Und ich weiß nicht, was du da gerade so tust«, sagt er. »Noch acht Wochen bis zum großen schwarzen Loch. Zwei Kinder und — Masel-tow und Keijnehore — ein drittes unterwegs.«

Berko macht sich nicht die Mühe zu fragen, woher sein Vater weiß, dass Ester-Malke schwanger ist. Das würde nur die Eitelkeit des Alten befriedigen. Er nickt einfach und verdrückt noch ein paar Fleischklöpse. Sie sind gut, die Klopse, saftig mit einem Hauch von Rosmarin und Rauch.