»Du hast recht«, sagt Berko. »Es ist Wahnsinn. Und ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Büffel da liebe oder mich um ihn sorge, sieh ihn dir an, ohne Ausweis, ohne Pistole, belästigt er Leute und läuft mit abgefrorenen Kniescheiben rum, nicht mehr als ich mich um meine Frau oder meine Kinder sorge, denn das tue ich nicht. Oder dass ich es irgendwie logisch finde, seinetwegen die Zukunft meiner Familie aufs Spiel zu setzen, denn das finde ich nicht.« Beim Anblick der Schüssel mit den Klopsen gibt sein Körper einen abgekämpften Laut von sich, einen jiddischen Laut, irgendwas zwischen einem Rülpser und einer Klage. »Aber wenn wir über schwarze Löcher reden, was soll ich sagen, das sind Dinge, mit denen ich nicht ohne Meyer an meiner Seite zu tun haben will.«
»Siehst du, wie treu«, sagt Onkel Hertz zu Landsman. »Genauso ging es mir mit deinem Vater, möge sein Name zum Segen sein, aber der Feigling hat mich so richtig im Stich gelassen.«
Es soll leicht klingen, aber das beschämte Schweigen nach dieser Bemerkung verdunkelt sie nachträglich. Sie kauen das Essen, das Leben fühlt sich lang und schwer an. Hertz steht auf und schenkt sich noch einen Schnaps ein. Er geht ans Fenster, betrachtet den Himmel, der einem aus den Scherben von tausend Spiegeln zusammengesetzten Mosaik gleicht, jede Scherbe hat einen anderen Grau ton. Der Winterhimmel im südöstlichen Alaska ist talmudgrau, ein unerschöpflicher Thorakommentar aus Regenwolken und ersterbendem Licht. Onkel Hertz war immer der tüchtigste, selbstsicherste Mann, den Landsman kannte, präzise wie ein Origami-Flugzeug, ein flinker Papierflieger, mit Akribie gefaltet, unempfindlich gegenüber Turbulenzen. Akkurat, methodisch, leidenschaftslos. Immer schon gab es Hinweise auf Schatten, auf Irrationales und Gewalt, aber sie waren hinter den Mauern von Hertz’ geheimnisvollen indianischen Abenteuern verborgen, versteckt auf der anderen Seite der Grenze, mit dem klugen Scharren eines Tieres überdeckt, das seine eigene Fährte verwischt. Aber jetzt steigt in Landsman eine Erinnerung aus den Tagen nach dem Tod seines Vaters auf, an Onkel Hertz, der zerknüllt wie ein Papiertaschentuch in einer Ecke der Küche auf der Adler Street sitzt, Hemd über der Hose, unordentliches Haar, falsch geknöpftes Hemd. Der schwindende Inhalt einer Flasche Sliwowitz auf dem Küchentisch neben ihm zeigt wie ein Barometer die sinkende Atmosphäre seiner Trauer an.
»Wir hätten da ein Rätsel, Onkel Hertz«, sagt Landsman. »Deshalb sind wir hier.«
»Und wegen der Mayonnaise«, sagt Berko.
»Ein Rätsel.« Der Alte wendet sich vom Fenster ab, sein Blick ist wieder hart und wachsam. »Ich hasse Rätsel.«
»Wir bitten dich ja nicht, es zu lösen«, sagt Berko.
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir, John Bear!«, fährt der alte Mann ihn an. »Der gefällt mir nicht.«
»Ton?«, sagt Berko, und seine Stimme ist wie eine Notenlinie mit einem halben Dutzend Tönen befrachtet, ein Kammermusikensemble aus Frechheit, Groll, Sarkasmus, Provokation, Unschuld und Überraschung. »Ton?«
Landsman wirft Berko einen Blick zu, der ihn nicht an sein Alter und seine Stellung im Leben, sondern daran erinnern soll, dass es völlig uncool ist, mit den eigenen Verwandten zu zanken. Es ist ein alter, abgetragener Gesichtsausdruck, der auf die Zeit von Berkos ersten streiterfüllten Jahren bei den Landsmans zurückgeht. Wenn sie zusammen sind, dauert es immer nur wenige Minuten, bis jeder in seinen Urzustand zurückfällt, wie die Überlebenden eines Schiffswracks. Genau das ist eine Familie, denkt Landsman. Und eine Familie ist der Sturm auf See, das Schiff und das unbekannte Ufer. Und die Hütte und das Werkzeug, um aus Bambus und Kokosnüssen Whisky zu destillieren. Und das Feuer, das man entzündet, um wilde Tiere fernzuhalten.
»Wir würden da gerne etwas erklären«, beginnt Landsman von Neuem. »Eine Situation. Und diese Situation hat Aspekte, die uns an dich erinnert haben.«
Onkel Hertz schenkt sich noch einen Sliwowitz ein, trägt ihn zum Tisch und setzt sich.
»Fangt von vorne an«, sagt er.
»Es fängt mit einem toten Junkie in meinem Hotel an.«
»Aha.«
»Du weißt Bescheid.«
»Ich habe so was im Radio gehört«, sagt der alte Mann. »Vielleicht habe ich auch etwas in der Zeitung gelesen.« Er gibt immer den Zeitungen die Schuld an dem, was er weiß. »Er war der Sohn von Heskel Shpilman. Der, auf den sie so große Hoffnung setzten, als er noch klein war.«
»Er wurde umgebracht«, sagt Landsman. »Entgegen dem, was du gelesen haben magst. Als er starb, war er auf der Flucht. Er hat sich den größten Teil seines Lebens vor diesem und jenem versteckt, aber als er starb, hat er, glaube ich, versucht, einigen Männern zu entgehen, die er im Stich gelassen hatte. Ich konnte seine Bewegungen zurückverfolgen bis zum Flugplatz Yakovy im letzten April. Da tauchte er an dem Tag vor Naomis Tod auf.«
»Hat das hier was mit Naomi zu tun?«
»Diese Männer, die Shpilman suchten. Und die ihn auch umbrachten, wie wir annehmen. Letztes Jahr im April engagierten sie Naomi, um den Typ zu ihrer Farm rauszufliegen, das ist so eine Art Therapieeinrichtung für kaputte junge Leute. Draußen in Peril Strait. Aber als er da ankam, bekam er Schiss. Er wollte wieder weg. Er wandte sich an Naomi um Hilfe, und sie brachte ihn heraus, flog ihn in die Zivilisation zurück. Nach Yakovy. Am nächsten Tag starb sie.«
»Peril Strait?«, sagt der alte Mann. »Dann sind das also Indianer? Willst du damit sagen, die Indianer haben Mendel Shpilman umgebracht?«
»Nein«, sagt Berko. »Diese Männer vom Rehazentrum, die wohnen auf gut fünfhundert Hektar nördlich dieses Dorfes. Es sieht aus, als wäre das Zentrum von dem Geld amerikanischer Juden gebaut worden. Die Leute, die es leiten, sind Jids. Und soweit wir sagen können, ist das Ganze nur eine Fassade für eine andere Organisation.«
»Nämlich was? Marihuanaanbau? Das wäre geschickt. Eine als Besserungsanstalt getarnte Marihuanafarm.«
»Also, zum einen gibt es dort eine Herde Ayreshire-Rinder«, sagt Berko. »Vielleicht hundert Stück.«
»Zum einen.«
»Zum anderen scheint es so eine Art paramilitärische Ausbildungseinrichtung zu sein. Der Führer könnte ein alter Jude sein. Wilfred Dick hat ihn gesehen, er war da. Aber Dick kannte den Mann nicht. Wer auch immer es ist, er scheint Verbindungen zu den Verbovern zu haben, zumindest zu Aryeh Baronshteyn. Aber wir wissen nicht, warum und zu welchem Zweck.«
»Ein Amerikaner war auch da«, sagt Landsman. »Er wurde zu einem Treffen mit Baronshteyn und diesen anderen mysteriösen Juden eingeflogen. Sie machten sich alle ein bisschen Sorgen um den Ami. Sie glaubten wohl, er könnte unzufrieden mit ihnen und ihrem Führungsstil sein.«
Der Alte steht vom Tisch auf und geht zu einer Vitrine, die den Essbereich vom Schlafbereich trennt. Aus einem Humidor holt er eine Zigarre und rollt sie zwischen den Handflächen. Lange rollt er sie, vor und zurück, bis sie scheinbar in Vergessenheit geraten ist.
»Ich hasse Rätsel«, sagt er schließlich.
»Das wissen wir«, sagt Berko.
»Das wisst ihr.«
Onkel Hertz hält sich die Zigarre unter die Nase und bewegt sie hin und her, atmet tief ein, die Augen geschlossen, erfreut sich nicht nur des Geruchs, so scheint es Landsman, sondern auch der Kühle des glatten Blattes an der Haut seiner Nase.
»Das ist meine erste Frage«, sagt Onkel Hertz und öffnet die Augen. »Vielleicht auch meine einzige.«
Sie warten auf die Frage, während er die Zigarre abknipst und sie seinen schmalen Lippen anpasst, die sie prüfend umschließen. »Welche Farbe hatten die Kühe?«, sagt er.
36.
»Es war eine Rote dabei«, sagt Berko langsam und ein wenig widerwillig, als hätte er verpasst, wie die Münze in den Ärmel rutschte, obwohl er die Hände des Zauberers genau beobachtet hat.