»Hey, Jid«, ruft sie Landsman zu. »Ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen.«
Landsman setzt seinen Hut auf und folgt ihr. Auf dem Weg nach draußen nickt er Spade zu.
»Lobe den Herrn«, sagt Landsman.
38.
Das Institut Moriah ist der einzige Mieter im sechsten und obersten Stockwerk des Hotel Blackpool. Der Korridor ist frisch gestrichen, auf dem Boden liegt ein makelloser malvenfarbener Teppich. Am hinteren Ende neben der Tür von 606 nennen kleine schwarze Buchstaben auf einem unauffälligen Messingschild den Namen des Instituts auf Englisch und Jiddisch, darunter steht in Großbuchstaben: SOL UND DOROTHY ZIEGLER CENTER. Bina drückt auf eine Klingel. Sie blickt ins Objektiv der Sicherheitskamera, die auf die beiden herabschaut.
»Du erinnerst dich an die Abmachung«, sagt Bina zu Landsman. Es ist keine Frage.
»Ich soll den Mund halten.«
»Das ist nur ein kleiner Teil davon.«
»Ich bin nicht mal hier. Ich existiere gar nicht.«
Sie klingelt erneut, und als sie gerade die Hand zum Klopfen heben will, öffnet Buchbinder die Tür. Er trägt eine andere riesige kornblumenblaue Sweatshirtjacke mit blassgrünen und lachsroten Punkten, dazu weite Chinos und ein Sweatshirt der Bronfman University. Er hat Tinten- oder Fettflecken im Gesicht und an den Händen.
»Inspector Gelbfish«, sagt Bina und zeigt ihm ihren Ausweis. »Sitka Central. Ich suche Alter Litvak. Ich habe Grund zur Annahme, dass er sich hier aufhält.«
Ein Zahnarzt ist in der Regel kein Mann der Tücke. An Buchbinders Gesicht lässt sich klar und deutlich ablesen, dass er mit ihnen gerechnet hat.
»Es ist schon sehr spät«, versucht er es. »Wenn Sie nicht —«
»Alter Litvak, Dr. Buchbinder, ist er hier?«
Landsman sieht, wie Buchbinder mit der Mechanik, der Flugbahn und der Windscherung einer Lüge ringt.
»Nein. Nein, er ist nicht hier.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein. Nein, Inspector, das weiß ich nicht.«
»Aha. Gut. Könnte es sein, dass Sie mich belügen, Dr. Buchbinder?«
Es folgt eine kurze, schwere Pause. Dann schlägt Buchbinder ihnen die Tür vor der Nase zu. Bina klopft, ihre Faust der unermüdliche Schnabel eines Baumspechts. Kurz darauf öffnet Buchbinder wieder die Tür, lässt schnell sein Shoyfer in der Jackentasche verschwinden. Er nickt, und Wangen, Kiefer und das Zwinkern in seinen Augen machen einen freundlichen Anschein. Jemand hat einen kleinen Trichter geschmolzenen Eisens in sein Rückgrat gegossen.
»Kommen Sie doch herein!«, sagt er. »Mr. Litvak empfängt sie. Er ist oben.«
»Ist das hier nicht das oberste Stockwerk?«, fragt Bina.
»Es gibt noch eine Dachwohnung.«
»Absteigen haben so was nicht«, sagt Landsman. Bina wirft ihm einen Blick zu. Er soll unsichtbar, unhörbar sein, ein Geist.
Buchbinder senkt die Stimme. »Ich nehme an, da hat früher der Hausmeister gewohnt. Aber die Wohnung ist renoviert worden. Hier entlang, bitte, es gibt eine Hintertreppe.«
Die Innenwände sind herausgerissen worden, Buchbinder führt sie durch die Galerie des Ziegler Centers. Es ist ein kühler, dunkler, jüngst weiß gestrichener Raum, ganz anders als der schmuddelige ehemalige Papierwarenladen auf der Ibn-Ezra Street. Das Licht stammt von Glas- oder Plexiglaswürfeln, die auf viereckigen, mit Teppich bespannten Säulen stehen. Jeder Würfel stellt ein Objekt zur Schau, einen silbernen Löffel, eine Kupferschale, ein unerklärliches Kleidungsstück, das aussieht, als sei es in einer Weltraumoper vom sorvoldanischen Botschafter getragen worden. Es müssen weit über hundert Ausstellungsstücke sein, viele davon mit Gold und Edelsteinen verziert. Jedes verkündet den Namen der amerikanischen Juden, durch deren Großzügigkeit die Herstellung ermöglicht wurde.
»Sie haben es weit gebracht«, sagt Landsman.
»Ja, es ist herrlich«, sagt Buchbinder. »Ein Wunder.«
Ein Dutzend großer Lattenkisten steht am hinteren Ende des Raumes, Locken von Kiefernspänen quillen aus ihnen hervor. Aus der Holzwolle ragt ein zierlicher, mit Gold ziselierter Silbergriff. Auf einem großen flachen Tisch in der Mitte des Raumes verschluckt das maßstabsgetreue Modell eines steingefurchten, nackten Hügels das Licht von einem Dutzend Halogenstrahlern. Die Bergspitze, wo Isaak darauf wartete, dass sein Vater ihm den Lebensmuskel aus dem Leib riss, ist so flach wie ein Platzdeckchen. An den Hängen finden sich Steinhäuser, Steingassen, kleine Oliven- und Zypressenbäume mit struppigem Laub. Winzige, in Minigebetsschals gehüllte Juden betrachten die Leere auf der Bergspitze, so als veranschaulichten oder demonstrierten sie das Prinzip, dass jeder Jude seinen persönlichen Messias hat, der nie kommt, denkt Landsman.
»Ich sehe den Tempel nicht«, sagt Bina in einem Ton, als würde sie lieber den Mund halten.
Buchbinder stößt ein sonderbares Grunzen aus, animalisch und zufrieden. Mit der Schuhspitze drückt er auf eine Taste im Boden. Es gibt ein sanftes Klicken, dann summt ein kleiner Ventilator. Und dann kehrt der maßstabsgetreu nachgebaute Tempel — errichtet von Salomon, zerstört von den Babyloniern, wieder aufgebaut und umgestaltet vom König Judäas, der Christus zum Tode verurteilte, zerstört von den Römern, versiegelt und bebaut von den Abbasiden — zurück an seinen rechtmäßigen Platz am Nabel der Welt. Die Technik, die diese Erscheinung möglich macht, verleiht dem Modell ein wundersames Leuchten. Der Tempel schimmert wie eine Fata Morgana. In seiner praktischen Ausführung zeugt der Dritte Tempel von zurückhaltender Steinmetzkunst mit seinen Kuben, Säulen und windigen Plazas. Hier und dort verleiht ihm ein gemeißeltes sumerisches Ungeheuer eine Spur Urtümlichkeit. Dies ist der Zettel, den Gott den Juden in die Hand gab, denkt Landsman, das Versprechen, dessentwegen wir ihm seither auf den Geist gehen. Der Turm, der sich im Endspiel der Welt um den König kümmert.
»Und jetzt lassen wir die Puff-Puff-Eisenbahn fahren«, sagt Landsman.
Hinten im Raum befindet sich eine schmale Treppe, an einer Seite frei, an der anderen gegen die Wand gedrückt. Sie führt hinauf zu einer schwarzlackierten Stahltür. Buchbinder klopft vorsichtig an.
Der junge Mann, der die Tür öffnet, ist einer der Großneffen aus dem Einstein, der Fahrer des Caudillo, der schwere, breitschultrige Amerikaner mit dem rosa Nacken.
»Ich glaube, Mr. Litvak erwartet mich«, sagt Bina fröhlich. »Ich bin Inspector Gelbfish.«
»Sie haben fünf Minuten«, sagt der junge Mann in zweckmäßigem Jiddisch. Er kann nicht älter als zwanzig sein. Sein linkes Auge ist nach innen gerichtet, auf seinen Babywangen sind mehr Aknenarben als Barthaare. »Mr. Litvak ist ein viel beschäftigter Mann.«
»Und wer sind Sie?«
»Sie können mich Micky nennen.«
Sie tritt auf ihn zu und reckt ihr Kinn gegen seine Kehle.
»Micky, ich weiß, dass mich das in deinen Augen zu einem schlechten Menschen macht, aber mir ist wirklich egal, wie beschäftigt Mr. Litvak ist. Ich rede so lange mit ihm, wie ich es für richtig halte. Jetzt bring mich zu ihm, mein Süßer, sonst wirst du für sehr lange Zeit überhaupt keine Beschäftigung mehr haben.«
Micky wirft Landsman einen Blick zu, der besagt Wow, ist die hart. Landsman tut so, als verstehe er nicht.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagt Buchbinder und verbeugt sich vor allen. »Ich habe noch sehr viel zutun.«
»Wollen Sie irgendwohin, Doktor?«, fragt Landsman.
»Ich habe Ihnen das bereits erklärt«, sagt der Zahnarzt. »Vielleicht sollten Sie sich so was besser aufschreiben.«
Das Penthouse auf dem Hotel Blackpool ist nichts Besonderes. Ein Zweizimmerapartment. Im vorderen Raum befinden sich eine Schlafcouch, eine Bar mit fließendem Wasser und ein Minikühlschrank, ein Sessel und sieben junge Männer mit dunklen Anzügen und schlechten Frisuren. Die Betten sind weggeklappt, aber man riecht, dass in diesem Raum junge Männer geschlafen haben, vielleicht tatsächlich sieben. Ein biesenbesetztes Bettlaken späht aus dem Ritz eines Sitzkissens wie ein im Reißverschluss gefangener Hemdschoß.