Er hob den linken Handrücken vor die Augen. Sein schmaler Ehering war von seinen Fingern verschluckt wie eine im Fleisch eines Baumes verschwundene Axt. Litvak spürte ein Pochen in seinem Hals, einen Daumen, der immer wieder über die tiefste Saite einer Harfe fuhr. Schwindel. Ein ballonartiges Gefühl in Armen und Beinen. Es musste die Hitze sein. Er machte zaghafte, flache Atemzüge in der schweren, brennenden Luft.
»Mich blendet diese Vision«, sagte der Rebbe. »Vielleicht bin ich davon auf meine Art so geblendet wie die Evangelikalen. So wertvoll ist dieser Schatz. So unermesslich süß.«
Nein. Es war nicht die Hitze und Schwere des Schwitz, die Litvaks Puls pochen ließen und ihn schwindelig machten, jedenfalls nicht nur. Er war nun von seinem Bauchgefühl überzeugt: Shpilman wollte seinen Vorschlag zurückweisen. Aber als die wahrscheinliche Absage näher rückte, dämmerte ihm eine neue Möglichkeit, durchfuhr ihn regelrecht. Es war die Spannung einer brillanten Idee, eines blendenden Zugs.
»Dennoch reicht es nicht«, sagte der Rebbe. »Ich sehne mich nach Messias mehr als nach allem anderen auf dieser Welt.« Er stand auf, und sein Bauch schwappte über seine Hüften und Leisten wie kochende Milch, die am Topf herunterschäumt. »Aber ich habe Angst. Ich habe Angst vorm Scheitern. Ich habe Angst vor großen Verlusten unter meinen Jids und vor der völligen Zerstörung von allem, für das wir in den letzten sechzig Jahren gearbeitet haben. Am Ende des Krieges gab es noch elf Verbover, Litvak. Elf. Auf dem Totenbett habe ich dem Vater meiner Frau versprochen, nicht zuzulassen, dass uns jemals wieder solch eine Zerstörung widerfährt.
Und schließlich und endlich, Litvak, habe ich Angst, es könnte ein Metzgergang sein. Es gibt zahlreiche, einleuchtende Warnungen davor, die Ankunft von Messias auf irgendeine Weise zu beschleunigen. Jeremia verurteilt es. Ebenso die Schwüre Salomons. Natürlich möchte ich meine Jids in einer neuen Heimat sehen, mit finanziellen Bürgschaften der USA, mit Hilfsangeboten und Zugang zu den unvorstellbar großen neuen Märkten, die Ihre Unternehmung im Erfolgsfall schaffen würde. Und ich wünsche mir Messias so sehr, wie ich mir nach dieser Hitze wünsche, in das kühle dunkle Wasser der Mikwe im nächsten Zimmer zu sinken. Aber, Gott vergebe mir meine Worte, ich habe Angst. So viel Angst, dass selbst der Vorgeschmack von Messias auf meinen Lippen nicht ausreicht, Litvak. Und das können Sie denen sagen, da unten in Washington. Sagen Sie ihnen, der Verbover Rebbe habe Angst.« Die Vorstellung von Angst schien den Rebbe in ihrer Neuigkeit völlig hinzureißen, wie einen Jugendlichen, der an den Tod, oder eine Hure, die an die reine Liebe denkt. »Was?«
Litvak hob den rechten Zeigefinger. Er hatte noch etwas, das er dem Rebbe anbieten konnte. Eine weitere Klausel im Abkommen. Er hatte keine Ahnung, wie er sie vortragen würde oder ob sie überhaupt vorgetragen werden konnte. Doch als sich der Rebbe anschickte, seinen massigen Rücken Jerusalem und der überwältigenden Ungeheuerlichkeit des Handels zuzukehren, den Litvak monatelang vorbereitet hatte, spürte er diese Klausel wie eine Art Schrei in sich aufsteigen, versehen mit zwei Ausrufezeichen. Hastig schlug er seinen Block auf. Er kritzelte zwei Wörter auf das erste leere Blatt, aber in seiner Eile und Panik drückte er so fest auf, dass sein Stift das feuchte Papier zerriss.
»Was ist das?«, sagte Sphilman. »Haben Sie noch mehr anzubieten?«
Litvak nickte einmal, zweimal.
»Mehr als Zion? Als Messias? Als eine Heimat, als Glück?«
Litvak stand auf und tappte über die Fliesen, bis er direkt neben dem Rebbe stand. Zwei nackte Männer, die die Geschichten ihrer verhunzten Körper trugen. Jeder von ihnen auf seine Art beraubt, allein. Litvak streckte die Hand aus und schrieb, ermächtigt und inspiriert von dieser Einsamkeit, mit der Fingerspitze zwei Wörter in die Kondenstropfen einer viereckigen weißen Kachel.
Der Rebbe las sie und sah auf. Es sammelten sich neue Tropfen, dann waren die Wörter verschwunden.
»Mein Sohn«, sagte der Rebbe.
Es ist mehr als ein Spiel, schrieb Litvak im Büro in Peril Strait, während er mit Roboy auf die Ankunft dieses ungeratenen, unerlösten Sohnes wartete. Ich kämpfe lieber um einen noch so zweifelhaften Preis als darauf zu warten welche Brosamen man mir hinwirft
»Ich nehme an, irgendwo darin ist ein Credo versteckt«, sagte Roboy. »Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für Sie.«
Als Gegenleistung für die Versorgung mit Kriegern, dem Messias und Geldmitteln, die die kühnsten Träume seiner Geschäftspartner übertrafen, hatte Litvak sich von seinen Kunden, Auftraggebern und Verbündeten einzig und allein erbeten, dass man niemals von ihm erwartete, den Quatsch zu glauben, den die anderen glaubten. Wo sie die Früchte göttlicher Wünsche in einem neugeborenen roten Kälbchen sahen, erkannte er nur das Ergebnis von Millionen Steuerdollar, die heimlich für Bullensamen und In-vitro-Befruchtung ausgegeben worden waren. In der zukünftigen Verbrennung dieser roten Kuh sahen sie die Reinigung ganz Israels und die Erfüllung eines Millionen Jahre alten Versprechens; Litvak sah darin höchstens einen notwendigen Zug in einem alten Spiel — dem Überleben der Juden.
Ach so weit würde ich nicht gehen
Es klopfte an der Tür, und Micky Vayner steckte den Kopf herein.
»Ich wollte Sie erinnern, Sir«, sagte er in seinem braven amerikanischen Hebräisch.
Ausdruckslos schaute Litvak in das rosa Gesicht mit den blättrigen Augenlidern und dem Kinn aus Babyspeck.
»Fünf Minuten vor Sonnenuntergang. Ich sollte Sie erinnern.«
Litvak ging zum Fenster. Der Himmel war nun rosa, grün und so leuchtend grau gestreift wie die Haut eines Lachses. Gewiss sah er einen Stern oder Planeten. Dankend nickte er zu Micky Vayner hinüber. Dann klappte er das Kästchen mit den Schachfiguren zu und schloss die Spange.
»Was ist bei Sonnenuntergang?«, fragte Roboy. Er drehte sich zu Micky Vayner um. »Was ist heute?«
Micky Vayner zuckte mit den Achseln; soweit er wusste, war es nach dem Mondkalender ein ganz normaler Tag im Monat Nissan. Auch wenn er wie seine jungen Kameraden ausgebildet worden war, an die vorbestimmte Wiedereinsetzung des biblischen Königreichs Judäa und an das Schicksal Jerusalems als ewige Hauptstadt der Juden zu glauben, befolgte er die Vorschriften nicht strenger oder besser als die anderen. Die jungen amerikanischen Juden in Peril Strait feierten die großen Feste und hielten sich größtenteils an die Ernährungsvorschriften. Sie trugen ihre Jarmulkes und das Vier-Ecken, stutzten ihre Bärte aber militärisch kurz. Sie vermieden Arbeit und Training am Sabbat, aber es gab Ausnahmen. Nach vierzig Jahren als weltlicher Krieger konnte Litvak damit umgehen. Selbst nach dem Unfall, als seine Sora ihm genommen war, als der Wind durch das Loch pfiff, das sie in Litvaks Leben hinterlassen hatte, als er nach Bedeutung dürstete und nach Sinn hungerte, nach einem leeren Becher und einem nackten Teller, hätte Alter Litvak keinen Platz unter wahrhaft frommen Männern einnehmen können. Beispielsweise hätte er nie unter den Schwarzhüten glücklich werden können. Tatsächlich konnte er sie nicht ausstehen und hatte seit jenem Treffen in der Badeanstalt seinen Kontakt zu den Verbovern auf ein Minimum beschränkt, während sie sich in aller Heimlichkeit darauf vorbereiteten, en masse nach Palästina geflogen zu werden.
Heute ist nichts, schrieb er, ehe er seinen Block einsteckte und das Zimmer verließ. Rufen Sie mich wenn sie kommen
In seinem Zimmer nahm Litvak das Gebiss heraus und ließ es mit einem Würfelklappern in ein Trinkglas fallen.
Er schnürte seine Stiefel auf und sackte auf das Klappbett. Wenn er nach Peril Strait hinausflog, schlief er immer in diesem winzigen Zimmer — im Grundriss war es als Abstellkammer ausgewiesen — im Flur hinter Roboys Büro. Seine Kleidung hängte er an einen Haken hinter der Tür, sein Gepäck verstaute er unter dem Bett.