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Er lehnte sich gegen die kalte Wand aus gestrichenen Hohlziegeln und schaute auf die Wand über dem Metallregal, das sein Glas mit den Zähnen trug. Der Raum hatte kein Fenster, daher stellte sich Litvak einen frühen Stern vor. Eine zurückfliegende Ente. Den fotografierten Mond. Den Himmel, der langsam die Farbe eines Gewehrs annahm. Und ein Flugzeug, das tief von Südost hereinkam und den Mann mit sich brachte, der nach Litvaks Plan Gefangener und Dynamit zugleich war, Wehrturm und Falltür, Zielscheibe und Pfeil.

Langsam erhob sich Litvak mit einem schmerzenden Ächzen. Er hatte Schrauben in den Hüften, die Hüften schmerzten; seine Knie pochten und gongten wie die Pedale eines alten Klaviers. In den Scharnieren seines Kiefers knirschte es unablässig. Mit der Zunge fuhr er sich über die leeren Flächen im Mund, sie fühlten sich an wie glatter Kitt. Er war an Schmerzen und Bruchstellen gewöhnt, doch seit dem Unfall schien sein Leib nicht mehr zu ihm zu gehören. Er war etwas, das aus diversen Einzelteilen zusammengezimmert und -geschraubt worden war. Ein Vogelhäuschen aus Sperrholz, auf einen Pfahl gepfropft, in dem seine Seele wie eine panische Fledermaus flatterte. Wie jeder Jude war er in die falsche Welt geboren worden, in das falsche Land, zur falschen Zeit, und jetzt lebte er auch noch im falschen Körper. Am Ende mochte es dieses Gefühl von Irrigkeit sein, diese Faust in seinem jüdischen Bauch, die Alter Litvak an die Sache der Jids band, deren Feldherr er nun sein sollte.

Er ging zum in der Wand verankerten Metallregal unter dem imaginären Fenster. Neben dem Trinkglas mit dem Beweis von Buchbinders Genialität stand ein zweites Glas. Es enthielt einige Unzen Paraffin, erhärtet um einen weißen Faden. Litvak hatte die Kerze nicht ganz ein Jahr nach dem Tod seiner Frau in einem Supermarkt mit der Absicht gekauft, sie am Jahrestag ihres Todes anzuzünden. Inzwischen waren mehrere Jahrestage gekommen und gegangen, und Litvak hatte seine eigene seltsame Tradition entwickelt. Jedes Jahr holte er die Jahrzeit-Kerze hervor, betrachtete sie und überlegte, sie zu entzünden. Er stellte sich das scheue Flackern der Flamme vor. Er malte sich aus, wie er in der Dunkelheit lag und das Licht der Gedenkkerze über seinem Kopf tanzte, ein schattenhaftes Alef-Bejs an die Decke der kleinen Kammer malte. Er sah vor sich, wie das Glas nach vierundzwanzig Stunden leer wäre, der Docht verzehrt, das Paraffin verbrannt, das winzige Metallplättchen am Boden in Wachs ertränkt. Und danach — aber an diesem Punkt verließ ihn immer seine Vorstellungskraft. Litvak wühlte in den Taschen seines Anzugs nach dem Feuerzeug, nur um die Möglichkeit, die Option zu haben, herauszufinden, was es bloß bedeuten mochte — sollte er sich denn dazu entschließen —, die Erinnerung an seine Frau anzuzünden. Das Feuerzeug war ein Zippo, auf einer Seite war in abgenutzten schwarzen Strichen ein Rangers-Abzeichen eingraviert, die andere war tief eingedrückt. Dort hatte das Feuerzeug einen herandrängenden Teil des Autos, der Straße oder der Traubenkirsche davon abgehalten, Litvaks Herz zu durchbohren. Seinem Hals zuliebe rauchte Litvak nicht mehr; das Feuerzeug war nur noch eine Gewohnheit, ein Symbol seines Überlebens, ein ironischer Glücksbringer, der nie seinen Platz neben dem Bett oder in Litvaks Hose verließ. Aber jetzt war es weder hier noch dort. Mit der dümmlichen Art eines hilflosen alten Mannes klopfte er sich von oben bis unten ab. Rückwärts ging er seinen Tag durch, arbeitete sich zurück bis zum Morgen, als er wie gewöhnlich das Feuerzeug in seine Jackentasche hatte gleiten lassen. Etwa nicht? Auf einmal konnte er sich nicht erinnern, am Morgen das Zippo eingesteckt oder es am Abend zuvor auf das Metallregal gelegt zu haben, als er schlafen ging. Vielleicht hatte er es schon seit Tagen nicht mehr bei sich. Es könnte zu Hause in Sitka sein, im Hinterzimmer des Hotel Blackpool. Es könnte überall sein. Litvak ließ sich zu Boden fallen, zerrte sein Gepäck unter dem Bett hervor und durchwühlte es mit klopfendem Herzen. Kein Feuerzeug. Auch keine Streichhölzer. Nur eine Kerze in einem Saftglas und ein Mann, der nicht wusste, wie er sie entzünden sollte, selbst wenn er eine Feuerquelle hätte. Litvak drehte sich zur Tür um, da hörte er jemanden näher kommen. Ein zartes Klopfen. Er ließ die Jahrzeit-Kerze in seiner Jackentasche verschwinden.

»Reb Litvak«, sagte Micky Vayner. »Sie sind da, Sir.«

Litvak setzte sein Gebiss ein und schob das Hemd in die Hose.

Alle auf die Zimmer ich will nicht dass ihn jetzt jemand sieht

»Ist er nicht bereit?«, sagte Micky Vayner ein wenig unsicher, wollte beruhigt werden. Er kannte Mendel Shpilman nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Er hatte lediglich Geschichten über Wunder aus seinen Knabentagen gehört und vielleicht den stechenden Geruch verdorbener Ware bemerkt, der manchmal aufstieg, wenn Shpilmans Name erwähnt wurde.

Es geht ihm nicht gut aber wir werden ihn heilen

Es war weder Teil der Doktrin noch notwendig für den Erfolg von Litvaks Plan, dass Micky Vayner oder einer der anderen Juden von Peril Strait glaubte, Mendel Shpilman sei der Tzaddik ha-Dor. Ein Messias, der tatsächlich kommt, nutzt niemandem. Eine erfüllte Hoffnung ist schon eine halbe Enttäuschung.

»Wir wissen, dass er nur ein Mensch ist«, sagte Micky Vayner pflichtgemäß. »Das wissen wir alle, Reb Litvak. Nur ein Mensch, nicht mehr, und das, was wir tun, ist größer als jeder Mensch.«

Es ist nicht der Mann um den ich mir Sorgen mache, schrieb Litvak. Alle auf die Zimmer

Als er auf dem Dock für das Wasserflugzeug stand und zusah, wie Naomi Landsman Mendel Shpilman aus dem Cockpit ihrer Super Cub half, dachte Litvak, wenn er es nicht besser wüsste, würde er die beiden für ein altes Paar halten. Die Art, wie sie seinen Oberarm ergriff, seinen Hemdkragen aus dem Revers seines zerknitterten Nadelstreifenblazers fischte und ihm einen Streifen Zellophan aus dem Haar zupfte, hatte etwas Forsch-Vertrautes. Sie beobachtete sein Gesicht, während Shpilman Roboy und Litvak beäugte, nur sein Gesicht, zärtlich wie ein Ingenieur, der nach Rissen, nach Materialermüdung sucht. Es schien unvorstellbar, dass die beiden sich, soweit Litvak wusste, nicht einmal drei Stunden kannten. Drei Stunden. Länger hatte sie nicht gebraucht, um ihr Schicksal an seines zu ketten.

»Willkommen«, sagte Dr. Roboy, der mit im Wind flatternder Krawatte neben einem Rollstuhl stand. Gold und Turteltoyb, ein Junge aus Sitka, sprangen aus dem Flugzeug auf den Anleger. Turteltoyb war so schwer, dass der Boden klingelte wie ein tortgeschleudertes Telefon. Das Wasser klatschte gegen die Pfähle. Die Luft roch nach verrotteten Netzen und brackigen Pfützen in alten Booten. Es war jetzt fast dunkel, im Schein der Flutlichter oben an den Pfeilern sahen alle leicht grün aus, nur Shpilman nicht, der wirkte weiß wie eine Feder und ebenso leicht. »Sie sind von Herzen willkommen.«

»Sie hätten kein Flugzeug schicken brauchen«, sagte Shpilman. Er hatte eine verzerrte, bühnenreife Stimme und eine aufgesetzte, pointierte Aussprache mit der tiefen, weichen Basslinie der klagenden Ukraine. »Ich hätte sehr gut selbst fliegen können.«

»Ja, ähm —«

»Röntgenblick. Schussweste. Das ganze Brimborium. Für wen ist der Rollstuhl, für mich etwa?«

Er breitete die Arme aus, setzte die Füße affektiert nebeneinander und unterzog sich selbst einer sorgfältigen Musterung, darauf vorbereitet, durch den eigenen Anblick erschreckt zu werden. Ein schlechtsitzender Nadelstreifenanzug, kein Hut, eine lose geschlungene Krawatte, ein heraushängender Hemdschoß, etwas Jugendliches in den ungebärdigen blondroten Locken. Unmöglich, in dieser zerbrechlichen, zarten Gestalt, in diesem schläfrigen Gesicht, auch nur das Geringste des monströsen Vaters zu erkennen. Höchstens vielleicht ein wenig um die Augen. Sphilman drehte sich zu der Pilotin um, gab sich überrascht, ja verletzt durch die Andeutung, er sei so durch den Wind, dass er einen Rollstuhl brauche. Aber Litvak merkte, dass die Geste aufgesetzt war, dass er seine tatsächliche Überraschung und Verletzung überspielte.