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Landsmans Vater spielte Schach.

Jeden Morgen, bei Regen, Schnee oder Nebel, ging er zu Fuß die zwei Meilen zum Café des Hotel Einstein, setzte sich weit hinten an einen aluminiumbeschichteten Tisch mit Blick auf die Tür und holte ein kleines Schachspiel mit Figuren aus Ahorn und Kirschholz hervor, ein Geschenk seines Schwagers. Abends saß er auf seiner Bank hinter dem kleinen Haus auf der Adler Street in Halibut Point, in dem Landsman aufwuchs, und pflegte die acht oder neun Briefpartien, die er gleichzeitig spielte. Er verfasste Artikel für die Chess Review. Er überarbeitete eine Biographie von Tartakower, eine Arbeit, die er nie ganz abschloss, aber auch nicht aufgab. Er bekam eine Rente von der deutschen Regierung. Und mit Unterstützung seines Schwagers lehrte er seinen Sohn, das von ihm geliebte Spiel zu hassen.

»Das willst du doch nicht tun«, redete Landsmans Vater auf seinen Sohn ein, wenn der mit blutleeren Fingern seinen König oder Bauern einem Schicksal übergab, das immer wieder überraschend für Landsman kam, egal, wie intensiv er das Schachspiel studierte, übte oder praktizierte. »Glaub’s mir.«

»Tu ich doch.«

»Tust du nicht.«

Doch im Dienste seines eigenen kleinen Elends konnte auch Landsman stur sein. Befriedigt und brennend vor Scham sah er dann zu, wie das grausame Schicksal seinen Lauf nahm, das er nicht hatte vorausahnen können. Landsmans Vater erlegte seinen Sohn, nahm ihn aus und sezierte ihn, während er ihn von der baufälligen Veranda seines Gesichts aus beobachtete.

Nach einigen Jahren dieses Sports setzte sich Landsman an die Schreibmaschine seiner Mutter und tippte einen Brief an seinen Vater, in dem er ihm seinen Hass auf das Schachspiel beichtete und bat, nicht länger zum Spielen gezwungen zu werden. Eine Woche lang trug Landsman diesen Brief in seinem Tornister mit sich umher, erlitt drei weitere blutige Niederlagen und schickte ihn dann vom Postamt in der Untershtot aus ab. Zwei Tage später beging Isidor Landsman im Raum 21 des Hotel Einstein Selbstmord mit einer Überdosis Nembutal.

Danach bekam Landsman einige Probleme. Er nässte ins Bett, wurde dick, sprach nicht mehr. Seine Mutter schickte ihn zu einer Therapie bei einem bemerkenswert sanften und erfolglosen Arzt namens Melamed. Erst dreiundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters sollte Landsman den verhängnisvollen Brief in einer Kiste wiederfinden, in der auch eine Reinschrift der unvollendeten Biographie von Tartakower lag. Es stellte sich heraus, dass Landsmans Vater den Brief seines Sohnes niemals geöffnet, geschweige denn gelesen hatte. Als der Postbote ihn zustellte, war Landsmans Vater bereits tot.

6.

Auf dem Weg zu Berko hängt Landsman den Erinnerungen an jene alten schachspielenden Jids nach, die vornübergebeugt in der hintersten Ecke des Café Einstein saßen. Es ist Viertel nach sechs in der Früh, auf seiner Uhr. Nach dem Himmel, der leeren Hauptverkehrsstraße und dem Knoten der Furcht in seinem Magen zu urteilen, ist es mitten in der Nacht. So dicht am Polarkreis und an der Wintersonnenwende dauert es noch mindestens zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang.

Landsman sitzt am Steuer eines Chevrolet Chevelle Super Sport von 1971, den er vor zehn Jahren in einem Anflug von nostalgischem Optimismus gekauft hat und seitdem fährt, auch wenn die unsichtbaren Mängel des Wagens nicht mehr von seinen eigenen zu unterscheiden sind. Beim ’71er-Modell wurden die beiden Scheinwerferpaare durch ein einziges Paar ersetzt. Eine der Birnen ist durchgebrannt. Wie ein Zyklop tastet sich Landsman die Promenade entlang. Vor ihm erheben sich die Apartmenttürme der Shvartser-Yam auf ihrer künstlich angelegten Landzunge inmitten des Sitka-Sunds, sie kauern in der Dunkelheit wie von einem Wasserwerfer zusammengetriebene Gefangene.

Mitte der Achtzigerjahre, in den euphorischen Anfangstagen des legalen Casinobetriebs, bauten russische Schtarker Shvartser-Yam auf potenziellem Erdbebengelände. Time-share-Apartments, Ferienunterkünfte und Junggesellenwohnungen, das war die Idee, dazu im Zentrum des Geschehens das Grand-Yalta-Casino mit seinen überfüllten Tischen. Doch das legale Glücksspiel ist passe, es wurde vom Gesetz zur Erhaltung traditioneller Werte verboten, und das Casinogebäude beherbergt heute einen KosherMart, ein Walgreens und ein Outlet-Center von Big Macher. Die Schtarker finanzieren wieder illegale Lotterien, Wettstuben und Würfelspiele. Die Urlauber und lockeren Typen sind einer Bevölkerung aus zwielichtigen Gestalten der höheren Klasse, russischen Immigranten, einer Prise ultraorthodoxer Juden und einer Gruppe bürgerlicher Semikünstler gewichen, denen die Atmosphäre ruinierter Festlichkeit gefällt, die auf dieser Gegend liegt wie ein Streifen Lametta über dem Zweig einer nackten Tanne.

Die Familie Taytsh-Shemets wohnt im dreiundzwanzigsten Stock des Dnyeper. Das Dnyeper ist so rund wie ein Stapel Pastetendosen. Viele Bewohner verschmähen den schönen Blick auf den eingestürzten Kegel von Mt. Edgecumbe, den leuchtenden Safety Pin und die Lichter der Untershtot, denn sie haben ihre geschwungenen Balkone mit Sturmglas und Jalousien versehen, um einen zusätzlichen Raum zu gewinnen. So auch die Taytsh-Shemets, als das Kind kam — das erste. Jetzt schlafen die beiden kleinen Taytsh-Shemets dort draußen, verstaut auf dem Balkon wie ausrangierte Skier.

Landsman stellt seinen Super Sport hinter dem Müllcontainer in der Parklücke ab, die er inzwischen als seine betrachtet, auch wenn er vermutet, dass ein Mann besser keine zärtlichen Gefühle für eine Parklücke hegen sollte. Für das Auto einen Platz zu haben, der dreiundzwanzig Stockwerke unter einer immer gültigen Einladung zum Frühstück liegt, sollte im Herzen eines Mannes nie als Heimkehr gelten.

Er ist einige Minuten vor halb sieben da, und obwohl er ziemlich sicher ist, dass im Haushalt Taytsh-Shemets bereits alle auf den Beinen sind, entscheidet er sich für die Treppe. Das Treppenhaus des Dnyeper stinkt nach Seeluft, Kohl und kaltem Beton. Oben angekommen, zündet Landsman eine Papiros an, um sich für seinen Fleiß zu belohnen, bleibt auf der Fußmatte der Taytsh-Shemets’ stehen und leistet der Mesusa Gesellschaft. Einen Lungenflügel hat er bereits herausgehustet, der zweite ist unterwegs, als Ester-Malke Taytsh die Tür öffnet. In der Hand hält sie einen Schwangerschaftsteststreifen mit einem Tropfen Flüssigkeit auf der ausschlaggebenden Stelle. Das muss Urin sein. Als sie merkt, dass Landsman den Streifen registriert, lässt sie ihn kühl in der Tasche ihres Bademantels verschwinden.

»Du weißt, dass wir eine Klingel haben, oder?«, sagt ihre Stimme hinter einem wirren Vorhang ziegelbraunen Haars, das zu fein ist für die Bobfrisur, die sie immer trägt. Es hat die Angewohnheit, sich über ihr Gesicht zu ergießen, besonders wenn sie schlaue Sprüche von sich gibt. »Ich meine, husten geht natürlich auch.«

Sie lässt die Tür offen und Landsman auf der dicken Kokosmatte mit der Aufschrift »HAU AB« stehen. Beim Eintreten berührt Landsman die Mesusa mit zwei Fingern und küsst sie mechanisch. So macht man es, wenn man gläubig ist wie Berko oder ein sarkastisches Arschloch wie Landsman. Er hängt seinen Hut und den Mantel an ein Elchgeweih neben der Wohnungstür. Dann folgt er Ester-Malkes dürrem Hintern im weißen Baumwollbademantel durch den Flur in die Küche. Die Küche ist schmal und wie eine Kombüse eingerichtet: Herd, Spüle und Kühlschrank an der einen, die Schränke an der anderen Seite. Eine Frühstückstheke mit zwei Hockern bildet den Übergang zum Wohnesszimmer. Dampf ringelt sich in Comic-Eisenbahn-Wölkchen aus einem Waffeleisen auf der Arbeitsplatte. Die Kaffeemaschine hustet und spuckt wie ein angeschlagener jüdischer Polizist nach zehn Treppen.