»Gütiger Gott. Was machen die da? Was haben die gemacht?«
Vieles an dem Bild auf der Fernsehmattscheibe bestürzt Landsman, aber am bestürzendsten findet er, dass die Juden von Sitka Einfluss auf ein achttausend Meilen entferntes Objekt genommen haben. Das scheint ihm ein grundlegendes Gesetz der emotionalen Physik zu verletzen. Die Raumzeit in Sitka ist ein gekrümmtes Phänomen; ein Jid mag in jede Richtung greifen, so weit er kann, am Ende klopft er doch nur sich selbst auf den Rücken.
»Was war mit Mendel?«, fragt er.
»Ich nehme an, sie waren schon zu weit, um es noch aufhalten zu können«, sagt Bina. »Ich nehme an, sie haben einfach ohne ihn weitergemacht.«
Es ist grotesk, aber aus irgendeinem Grund findet Landsman das schade für Mendel. Alles und jeder wird von jetzt an ohne ihn weitermachen.
Einige Minuten steht Bina da und sieht zu, wie die Jungs sich freuen. Sie hat die Arme verschränkt, ihr Gesicht ist ausdruckslos, nur in ihren Augenwinkeln ist Leben.
Binas Blick erinnert Landsman an die Verlobungsfeier einer ihrer Freundinnen, an der sie vor vielen Jahren teilnahmen. Die zukünftige Braut heiratete einen Mexikaner, und aus Spaß hatte die Feier das Motto Cinco de Mayo. Im Garten hatte man einen Pinguin aus Pappmache in einen Baum gehängt. Den Kindern wurden die Augen verbunden, dann wurden sie, bewaffnet mit einem Stock, losgeschickt, um den Pinguin so lange zu schlagen, bis er auseinanderbrach. Voller Grausamkeit hieben die Kinder auf den Vogel ein, dann regnete es Süßigkeiten. Es waren Unmengen eingepackter Toffees, Pfefferminz- und Karamellbonbons, Süßigkeiten, wie sie eine Großtante zuverlässigerweise aus der staubigen Falte ihrer Handtasche kramt. Doch als die Bonbons vom Himmel fielen, tanzten die Kinder mit bestialischer Freude. Und Bina stand da und beobachtete sie mit verschränkten Armen und einer Falte in den Augenwinkeln.
Sie reicht Berko seine Scholem zurück und zieht ihre eigene aus dem Holster.
»Schnauze!«, ruft sie, und dann auf Englisch: »Haltet euren beschissenen Mund!«
Einige der jungen Männer haben ihr Shoyfer hervorgeholt und versuchen, jemanden anzurufen, aber das versucht wohl gerade jeder in Sitka. Sie zeigen sich gegenseitig die Fehlermeldungen auf ihren Displays. Das Netz ist überlastet. Bina geht zum Fernseher und tritt gegen das Kabel. Der Stecker reißt aus der Wand. Der Fernseher erlischt.
Dunkler Treibstoff scheint aus den Tanks der jungen Männer zu sickern, als der Fernseher ausgeht.
»Sie sind verhaftet«, sagt Bina liebenswürdig, da sie nun die Aufmerksamkeit aller hat. »Da rüber und die Hände an die Wand. Meyer!«
Landsman tastet die Männer ab, einen nach dem anderen, hockt zu ihren Füßen wie ein Schneider, der die Beinlänge misst. Bei den sechs Personen an der Wand sammelt er acht Handfeuerwaffen und zwei teure Jagdmesser ein. Hat er einen durchsucht, befiehlt er ihm, sich hinzusetzen. Seine dritte Inspektion fördert die Beretta zutage, die Berko ihm lieh, bevor Landsman nach Yakovy aufbrach. Er hält sie hoch, damit Berko sich freut.
»Die kleine Süße«, sagt Berko mit vorgehaltener Scholem.
Als Landsman fertig ist, nehmen die jungen Gläubigen Platz: drei auf der Couch, zwei in den Sesseln und einer auf einem Stuhl, der aus einer Nische gezogen wurde. Auf einmal sehen sie jung und verloren aus, wie sie so dasitzen. Sie sind Kümmerlinge. Zurückgelassene. Alle drehen sich mit gerötetem Gesicht gemeinsam zu Litvaks Schlafzimmertür um, warten auf Anweisungen. Die Tür ist geschlossen. Bina öffnet sie und stößt sie dann mit dem Fuß weit auf. Volle fünf Sekunden steht sie da und schaut hinein.
»Meyer. Berko.«
Das Rollo klappert im Wind. Die Badezimmertür steht auf, das Badezimmer ist dunkel. Alter Litvak ist nicht mehr da.
Sie sehen im Wandschrank nach. Sie sehen in der Dusche nach. Bina geht zu dem klappernden Rollo und reißt es hoch. Die Glasschiebetür ist weit genug geöffnet, um einen Eindringling oder einen Ausbrecher durchzulassen. Sie gehen hinaus aufs Dach und schauen sich um. Sie suchen hinter der Klimaanlage, neben dem Wasserreservoir und unter einer Plane, die einen Stapel Klappstühle trocken hält. Sie spähen über das Gesims. Auf dem Parkplatz ist kein zersprungenes Porträt von Litvak in Öl zu sehen. Sie gehen zurück in die Wohnung auf dem Dach des Blackpool.
Mitten auf dem Bett liegen Litvaks Stift und Block sowie ein abgenutztes metallgraues Zippo. Landsman greift zu dem Block, um die letzten Worte zu lesen, die Litvak schrieb, bevor er ihn zur Seite legte.
Ich habe sie nicht getötet Sie war so ein guter Kerl
»Sie haben ihn rausgeschmuggelt«, sagt Bina. »Diese Schweine. Seine Schweinefreunde von der Army.«
Bina ruft die Männer unten am Hoteleingang an. Keiner von ihnen hat jemanden gehen sehen oder etwas Ungewöhnliches bemerkt, zum Beispiel ein Kommando rußgeschwärzter Krieger, die sich von einem Hubschrauber abseilen.
»Bastards!«, sagt sie erneut, jetzt auf Englisch und mit größerer Schärfe. »Diese verwichsten, bibelhörigen Hurensöhne!«
»Aber, aber, meine Dame!«
»Hoho, immer mit der Ruhe, Ma’am.«
Amerikaner in Anzügen, mehrere, zu viele und zu nah beisammen, als dass Landsman sie korrekt zählen könnte, sagen wir sechs, stehen Schulter an Schulter in der Tür zum Vorzimmer. Wohlgenährte große Männer, die ihre Arbeit lieben. Einer trägt einen schmissigen olivgrünen Staubmantel und ein entschuldigendes Grinsen unter seinem goldweißen Haar. Ohne den Pinguin-Pulli hätte Landsman ihn fast nicht wiedererkannt.
»Gut«, sagt der Mann, der Cashdollar sein muss. »Versuchen wir uns mal alle zu beruhigen.«
»FBI«, sagt Berko.
»So ungefähr«, sagt Cashdollar.
41.
Die nächsten vierundzwanzig Stunden schlägt Landsman in einem summenden kalkweißen Raum mit milchweißem Teppich im sechsten Stock des Harold Ickes Federal Building auf der Seward Street tot.
Sechs Männer mit den bunt wechselnden Nachnamen verdammter Crewmitglieder aus einem U-Boot-Film halten jeweils in Zweierteams vierstündig Wache. Einer ist schwarz, einer ein Latino, die anderen sind rosa Riesen mit Haarschnitten, die die kleine Lücke zwischen Astronaut und pädophilem Gruppenleiter schließen. Kaugummikauer, zu groß geratene Jungs mit guten Manieren und Sonntagsschullächeln. In jedem von ihnen erschnuppert Landsman zuweilen das Dieselherz eines Polizisten, doch verblüfft ihn der heidnische Südstaatenglanz ihres Alurahmens. Obwohl sich Landsman mit einer Rauchwand aus unverschämten Antworten umgibt, vermitteln sie ihm das Gefühl, klapprig zu sein, ein alter Zweitakter.
Niemand bedroht ihn oder versucht, ihn einzuschüchtern. Jeder spricht ihn mit seinem Dienstgrad an und achtet darauf, Landsmans Namen so zu betonen, wie er es bevorzugt. Wenn Landsman mürrisch, frech oder ausweichend wird, stellen die Amerikaner Nachsicht und lehrerhafte Gelassenheit zur Schau. Aber wenn Landsman es wagt, eine oder zwei Fragen zu formulieren, ergießt sich eine erstickende Stille über sie wie tausend Gallonen Wasser aus einem Flugzeug. Die Amerikaner verraten nichts über den Aufenthaltsort oder die Situation von Detective Shemets oder Inspector Gelbfish. Sie haben weder etwas über Alter Litvaks Verschwinden mitzuteilen, noch scheinen sie je von Mendel Shpilman oder Naomi Landsman gehört zu haben. Sie möchten wissen, was Landsman weiß oder über die amerikanische Beteiligung an dem Attentat auf Qubbat as-Sakhra und über die Urheber, Hauptakteure, Helfer und Opfer dieses Attentats zu wissen glaubt. Und sie wollen ihn nicht wissen lassen, was sie über all das wissen, falls sie überhaupt im Bilde sind. Sie sind in ihrer Kunst so gut ausgebildet, dass schon längst ein Schichtwechsel stattgefunden hat, ehe Landsman auffällt, dass die Amerikaner ihm immer wieder ungefähr dieselben zwei Dutzend Fragen stellen, dass sie sie wenden, umformulieren und aus anderen Blickwinkeln beleuchten. Ihre Fragen gleichen den Grundzügen der sechs unterschiedlichen Schachfiguren, endlos neu miteinander kombiniert, bis es so viele sind wie Neuronen im Gehirn.