»Ja, aber das ist sozusagen unser Prinzip, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Und Sie möchten, dass ich den Mund halte.«
»Ich weiß, das ist viel verlangt.«
»Nur so lange, bis Sie in Jerusalem diese Tatsachen geschaffen haben. Araber raus und Verbover rein. Ein paar Straßen umbenennen.«
»Nur so lange, bis wir die gute alte kritische Masse in Bewegung gesetzt haben. Ein paar Gelenke eingerenkt, die durch diese Sache ausgerenkt wurden. Und dann machen wir uns an die Arbeit. Erfüllen das, was geschrieben steht.«
Landsman trinkt einen Schluck Wasser. Er ist warm und schmeckt nach dem Inneren einer Strickjackentasche.
»Ich möchte meine Pistole und meinen Ausweis zurück«, sagt Landsman. »Mehr will ich nicht.«
»Ich liebe Polizisten«, sagt Cashdollar ohne große Begeisterung. »Wirklich.« Er legt eine Hand auf den Mund und atmet nachdenklich durch die Nase. Seine Hand ist manikürt, aber ein Daumennagel ist angekaut. »Das wird hier furchtbar indianisch werden, Mister. Nur unter uns gesagt. Wenn Sie Ihre Pistole und Ihren Ausweis zurückbekommen, werden Sie mit Sicherheit nicht sehr lange darüber verfügen können. Die Stammespolizei wird nicht allzu viele Juden als Staatsdiener anheuern.«
»Vielleicht nicht. Aber Berko nehmen sie.«
»Sie nehmen keinen, der nicht das Papier hat.«
»Ach ja«, sagt Landsman. »Das will ich auch noch.«
»Sie reden von einer Menge Papier, Detective Landsman.«
»Sie brauchen auch eine Menge Schweigen.«
»Allerdings«, sagt Cashdollar.
Eine oder zwei Sekunden lang mustert Cashdollar Landsman, und Landsman erkennt an einer bestimmten Wachsamkeit in den Augen des Mannes, an einem vorausahnenden Blick, dass irgendwo an Cashdollars Körper eine Waffe versteckt ist und ihm der Finger juckt, sie zu betätigen. Es gibt nämlich direktere Wege, Landsman zum Schweigen zu bringen, als ihn mit einer Waffe und verschiedenen Dokumenten abzufinden. Cashdollar erhebt sich von seinem Stuhl und stellt ihn sorgfältig an seinen Platz am Tisch zurück. Er will an seinem Daumennagel kauen, besinnt sich aber eines Besseren.
»Könnte ich meine Taschentücher zurückhaben?«
Landsman wirft sie ihm zu, aber es geht schief, Cashdollar kann sie nicht fangen. Die Packung fällt auf den Karton mit den alten Plunderteilen und landet in einem glänzenden Fleck roten Gelees. In Cashdollars sanften Augen reißt ein Spalt der Wut auf, durch den man einen Blick auf die verbannten Schatten von Ungeheuern und Abneigungen erhaschen kann. Das Letzte, was er will, erinnert sich Landsman, ist irgendeine Schweinerei. Cashdollar zupft ein Kleenex aus dem Päckchen und wischt die Packung damit ab, dann stopft er den Rest zurück in seine sichere rechte Tasche. Er fummelt den untersten Knopf seiner Jacke durch das Knopfloch, und als der Wollbund sich kurz über seiner Hüfte spannt, entdeckt Landsman die Ausbuchtung einer Scholem.
»Ihr Kollege«, sagt Cashdollar zu Landsman, »hat viel zu verlieren. Sehr viel. Wie Ihre Exfrau. Was den beiden nur zu bewusst ist. Vielleicht ist es Zeit, dass Sie zu demselben Schluss kommen, Detective Landsman.«
Landsman denkt an die Dinge, die er noch verlieren kann: ein Reiseschachbrett und das Polaroidfoto vom toten Messias. Einen in das Gewirr seines Hirns gedruckten profanen, unsystematischen Stadtplan von Sitka mit Tatorten, Kaschemmen und Aroniabüschen. Winternebel, der das Herz umhüllt, Sommernachmittage, die sich endlos in die Länge ziehen wie Diskussionen zwischen Juden. Die Geister des zaristischen Russlands in den Zwiebeltürmen der St.-Michael-Kathedrale und die Geister von Warschau im klagenden Wiegen eines Cafégeigers. Kanäle, Fischerboote, Inseln, streunende Hunde, Konservenfabriken, Milchbars. Die im nassen Asphalt gespiegelte Neonmarkise des Baranof Theaters, die wie auf einem Aquarell zerlaufenen Farben, wenn man mit dem Mädchen seiner Träume am Arm aus einer Vorstellung von Welles’ Herz der Finsternis kommt, das man gerade zum dritten Mal gesehen hat.
»Scheiß auf das, was geschrieben steht«, sagt Landsman. »Wissen Sie was?« Auf einmal ist er der Gannefs und Propheten müde, der Waffen und Opfer und der unendlichen Gangstermacht Gottes. Er ist es müde, vom Gelobten Land und dem für seine Erlösung unvermeidlichen Blutvergießen zu hören. »Mir ist egal, was geschrieben steht. Mir ist egal, was angeblich irgendeinem Idioten in Sandalen versprochen wurde, dessen einziger Anspruch auf Ruhm darin bestand, dass er seiner schwachköpfigen Idee zuliebe seinem eigenen Sohn die Kehle durchschneiden wollte. Rote Kühe, Patriarchen und Heuschrecken sind mir egal. Alte Knochen im Sand. Meine Heimat ist in meinem Hut. In der Umhängetasche meiner Exfrau.«
Er setzt sich. Zündet sich noch eine Zigarette an.
»Fuck you«, schließt Landsman. »Und Jesus auch, dieses Weichei.«
»Aber Mund halten, Landsman«, sagt Cashdollar weich und tut so, als würde er einen Schlüssel in seinem Mund herumdrehen.
42.
Als Landsman aus dem Ickes Building tritt und den Hut auf seinen geleerten Kopf setzt, stellt er fest, dass die Welt in eine Nebelbank gesegelt ist. Die Nacht ist kalt und klebrig, sie kondensiert auf seiner Brille und bildet Perlen an seinen Mantelärmeln. Korczak Platz ist eine Schüssel hellen Dunstes, hier und dort mit dem Abdruck von Natriumlampen verschmiert. Halbblind und durchgefroren bis auf die Knochen trottet Landsman die Monastir Street entlang bis zur Berlevi Street und dann hinüber zur Max Nordau Street. Er hat eine Zerrung im Rücken, ein Stechen im Kopf und einen scharf pochenden Schmerz in seiner Würde. Der bis vor Kurzem von seinem Hirn ausgefüllte Raum zischt wie Nebel in seinen Ohren, summt wie eine Neonröhre. Landsman hat das Gefühl, seine Seele habe Tinnitus.
Als er sich in die Lobby des Zamenhof schleppt, reicht ihm Tenenboym zwei Briefe. Der eine ist vom Ausschuss und teilt ihm mit, dass die Anhörung bezüglich seines Verhaltens in den Todesfällen Zilberblat und Flederman auf neun Uhr am nächsten Morgen angesetzt ist. Der andere Brief ist eine Mitteilung der neuen Hotelbesitzer. Eine Ms. Robin Navin von der Hotelgruppe Joyce/Generali unterrichtet Landsman davon, dass in den kommenden Monaten aufregende Veränderungen für das Zamenhof ins Haus stünden und es ab dem 1. Januar unter dem Namen »Luxington Parc Sitka« firmieren würde. Teilweise geht die Aufgeregtheit auf die Tatsache zurück, dass Landsmans monatlicher Mietvertrag am 1. Dezember ausläuft. Alle Fächer hinter der Rezeption enthalten lange weiße Umschläge, jeder mit dem gleichen tödlichen Schrägbalken auf schweres Bütten genutet. Nur nicht das Fach mit der Nummer 208. Da liegt nichts drin.
»Haben Sie gehört, was passiert ist?«, sagt Tenenboym, als Landsman von seinem brieflichen Ausflug in die helle nichtjüdische Zukunft des Hotel Zamenhof in die Gegenwart zurückkehrt.
»Ich hab’s im Fernsehen gesehen«, sagt Landsman, obwohl ihm die Erinnerung daran jetzt diesig und aus zweiter Hand vorkommt, ein Konstrukt, das seine Vernehmer durch hartnäckiges Fragen in ihn gepflanzt haben.
»Zuerst meinte man, es wäre ein Versehen«, sagt Tenenboym mit einem zappelnden goldenen Zahnstocher im Mundwinkel. »Araber hätten in einem Tunnel unter dem Tempelberg heimlich Bomben gebaut. Dann meinte man, es wäre Absicht. Dass die einen gegen die anderen kämpfen.«
»Sunniten gegen Schiiten?«
»Kann sein. Ein Raketenwerfer wäre außer Kontrolle geraten.«
»Syrer und Ägypter?«
»Wer auch immer. Der Präsident hat im Fernsehen gesprochen, er meinte, vielleicht müssten sie da rein. Wäre für alle eine Heilige Stadt.«
»Das hat nicht lange gedauert«, sagt Landsman.
Seine einzige weitere Post ist eine Karte, die bei lebenslanger Mitgliedschaft in einem Fitnessclub einen hohen Rabatt in Aussicht stellt. Nach seiner Scheidung hat Landsman dort einige Monate lang trainiert. Damals wurde vorgeschlagen, dass Sport seine Laune heben könne. Es war ein guter Vorschlag. Landsman kann sich nicht mehr erinnern, ob er sich bewahrheitete oder nicht. Die Karte zeigt links einen dicken Juden und rechts einen dünnen. Der linke Jude wirkt abgespannt, schlaflos, skierotisch, ungepflegt, hat Wangen wie zwei Löffel saurer Sahne und zwei stechende, böse kleine Augen. Der Jude rechts ist schlank, gebräunt, locker, selbstsicher und trägt einen gestutzten Bart. Eigentlich sieht er aus wie einer von Litvaks jungen Männern. Der Jude der Zukunft, denkt Landsman. Die Postkarte stellt die unwahrscheinliche Behauptung auf, dass der Jude links und sein Pendant rechts ein und dieselbe Person seien.